Die ästhetische Instabilität – eine essayistische Montage in 4 Teilen (Teil 4)
TEIL IV
Universale Werte
Damit der Raum der Digitalisierung an ästhetischer Stabilität gewinnt, ist ein stabiles Fundament von universal geltenden Werten erforderlich – und dies nicht als Wertehegemonie in europäischer, amerikanischer oder chinesischer, nicht in kapitalistischer oder sozialistischer Ausprägung, nicht mit christlichem, islamischem oder sonstigem religiösem Verständnis – sondern global, kosmopolitisch und universal.
Der Diskurs zu Begriffsklärungen ist unabdingbar. Denn: „Eine […] Voraussetzung menschlichen Zusammenlebens besteht in einer politischen Ordnung, die die Willkür aller Menschen einschränkt und ihnen einen Freiraum persönlichen Handelns garantiert“, mit einem Rechts- und Verfassungsstaat, zu dessen „höchsten Werten die Menschen- und Grundrechte“[1] zählen.
Die Werte müssen nicht mit Blick auf Vorteil und Nutzen geschaffen sein, sondern einzig und allein auf allgemeingültigen, universalen Werten, die sich aus sich heraus bedingen und unvergleichbar sind.
„Die Würde der Menschheit besteht eben in der Fähigkeit, allgemein gesetzgebend, obgleich mit dem Beding, eben dieser Gesetzgebung zugleich selbst unterworfen zu sein“, ibid. (III 66. f).“[2]
So ist die Würde ein absoluter Wert, von der ausgehend weitere abgeleitet werden können, die ihrerseits universale und absolute Geltung besitzen.
Für unsere Zukunft benötigen wir eine human-soziale Intelligenz, um Antworten auf die grundsätzlichen Fragen geben zu können:
„Was ist der Mensch? Was bedeuten wir füreinander, für die Umwelt, für die Erde im Ganzen? Zukunftsfähig erscheint...ein Denken, das Paradoxien auf einer neuen Ebene verbindet, Widersprüchliches zusammendenkt – ohne Furcht zu irren...“[3]
Auf die möglichen Wege dorthin werde ich hier nicht weiter eingehen; das Postulat für einen moralischen Fortschritt hat u.a. Markus Gabriel ausführlich formuliert: „Moralischer Fortschritt in dunklen Zeiten – Universale Werte für das 21. Jahrhundert“. Im Sinne einer Weltmoral mit der Entscheidungsfreiheit des Einzelnen verpflichtet die Menschheit – wenn sie klug ist – „den Zivilisationsrahmen nicht auf geltungstheoretische westliche, sondern universalen Werten, mit dem Kategorischen Imperativ Kants in seinen beiden Formulierungen als Fundament.
Denn: „Der kategorische Imperativ, der überhaupt nur aussagt, was Verbindlichkeit sei, ist: handle nach einer Maxime, welche zugleich als ein allgemeines Gesetz gelten kann.“[4]
Ähnliche ethische Ansätze der Reziprozität verantwortlichen menschlichen Handelns lassen sich in vielen Kulturen der Welt als „Goldene Regel“ finden.
Ein guter und vermutlich der einzige Ausgangspunkt für den oben erwähnten Diskurs zur Findung universal verbindlicher und gesetzgebender Standards und Normen mit globaler Anerkennung und Geltung.
Die Zukunft
Menschen gestalten seit Jahrtausenden ihren Raum und damit die Dimensionen ihrer Leben und ihrer Erkenntnisse. Ästhetik ist in diesem Raum alles, was die Sinne anspricht und damit essenzieller Teil des Menschseins – wie die Luft zum Atmen. Diesen Raum gilt es wieder neu zu gestalten und mit Verantwortung, Moral und Hoffnung belastbar auszustatten, abkehrend vom cartesianischen Weg des Weltverständnisses mit seinem menschenzentrierten Blick auf Umwelt und Natur, mit neu ausgehandelten Gesellschaftsverträgen, in denen die Politik als „verhandelte Ordnung“[5] an der Zukunftsgestaltung mitwirkt und sie nicht tatenlos der Wirtschaft überlässt, denn „nichts ist weniger unschuldig, als den Dingen ihren Lauf zu lassen“ (Pierre Bourdieu).[6]
Friedrich Hayeks marktradikale „Idee auf jeden Aspekt unseres Lebens anzuwenden, negiert das, was uns ausmacht. Sie tritt das, was am Menschen am menschlichsten ist – unser Bewusstsein und unser Wille – an Algorithmen und Märkte ab und lässt uns nachahmend und zombiehaft zurück, […] bedeutet, die Bedeutung unserer individuellen Fähigkeiten zur Vernunft radikal abzuwerten – unsere Fähigkeit, unsere Taten und Vorstellungen zu begründen und zu bewerten. Dies führt dazu, dass die öffentliche Sphäre – der Raum, in dem wir Gründe anführen und die Begründungen andere infrage stellen – aufhört, ein Raum zu sein, in dem debattiert wird, und zu einem Markt von Klicks, Likes und Retweets verkommt.“[7]
Es gilt wieder Möglichkeiten sehen zu lernen, die menschliche Selbstachtung mit der Achtung der Umwelt und der Natur in Einklang bringen. Voraussetzung hierfür ist die bereits von Immanuel Kant geforderte Mündigkeit. Denn Mündigkeit ermöglicht es dem Menschen souverän Ordnungen entwerfen und gestalten zu können. Die jetzige Un-Ordnung ist kein unentrinnbares Schicksal. Es kann auch eine andere Ordnung, ein anderes Beziehungsgefüge entworfen werden, die als ästhetisch stimmig empfunden werden und damit einen positiven Zukunftsentwurf darstellen. Die ästhetische Instabilität ist ein Thema von vielen, das sich unter der „Monokultur des ökonomischen Denkens“[8] mit ihren Ängsten und Werteverlusten subsumiert.
Vielmehr: „Die menschliche Seele benötigt mehr Ideale als Realitäten. Mit der Realität lebst du, mit den Idealen existierst du.“ (Victor Hugo). Mit dem Abgleich dieser beiden Aspekte ergeben sich Vorstellungen von einer gewünschten Zukunft und deren Ausgestaltung, die sich nach den Idealen hin ausrichten lässt, so wie im Schritt davor die Kritik an der jeweiligen Realität – und wie Thomas Mann seinen Charakter Settembrini im Zauberberg formulieren lässt: „Kritik bedeutet den Ursprung des Fortschritts und der Aufklärung…“[9]
In der Kritik treffen sich individuelle und kollektive Gestaltungsmöglichkeiten mit der Offenheit der Zukunft, die davon bestimmt wird, woran wir unser Handeln in der Gegenwart orientieren. Mit der Kritik entwickelt sich die Empörung, „[…] als Grundlage der Souveränität des Volkes und als Motor der Geschichte“[10] – die Theorie Diderots, die er in der Encyclopédie aufstellt.
Ästhetik sowie auch der Anspruch dazu wurde in den vergangenen Jahrzehnten immer mehr vernachlässigt und entwertet und ist durch die Strategie der Verinnerlichung gekennzeichnet, dass es zur ökonomischen Entgrenzung keine Alternative gibt. Eine Entgrenzung, die mit der Digitalisierung und der damit einhergehenden Erweiterung der Identitäten noch ausufernder wurde: privat, öffentlich, beruflich, geschäftlich, vermischen sich bis zur Unkenntlichkeit, mit fließenden, unscharfen Grenzen – und damit mit immer weniger Luft zum Atmen.
„Die Strategie des Produktivismus ist der vergebliche Versuch des modernen Menschen, seiner transzendentalen Obdachlosigkeit zu entfliehen.“[11] Um wieder gesellschaftliche Ziele in den Fokus zu rücken, wie auch den würdelosen Umgang mit der Natur zu überwinden, kurz: um dem Gemeinsinn wieder in das Zentrum des Denkens und Handelns zu bringen, braucht es den Willen zur Erkenntnis. Erkenntnisse vollziehen sich dabei ausnahmslos über unsere Sinne. Um sie zu formulieren, sich bewusst zu machen, bedient man sich der Sprache. Auf diese Weise lassen sich Geschichten, kollektive Erzählungen über die Welt, den Raum um uns auch mit anderen Worten wahrnehmen und erzählen und sind damit veränderbar. Die Erkenntnisse der Bedeutung des Konzepts der Information – und ihrem Verhältnis zu den Konzepten Zeit und Raum - stehen vermutlich erst am Anfang, wie das Verständnis zum Phänomen der Quantenverschränkung.
Der Gemeinsinn und kollektives Denken werden in den kommenden Jahren wieder viel stärker ausgeprägt sein müssen, um die herannahenden Katastrophen abzuwenden oder in Teilen in den Griff zu bekommen. Die ästhetische Anschauung und Aufmerksamkeit und deren Stellenwert kann diese Entwicklung nur positiv begleiten und verstärken, denn sie sensibilisiert für komplexe Zusammenhänge und löst dogmatische Widersprüche auf.
„Um eine unabänderliche Transformation denken zu können und um sie fühlen zu lernen […]“, also im besten Sinne das ästhetische Empfinden, Wahrnehmen, Erkennen, „[…] müssen neue Bilder angeboten, Räume für Experimente geöffnet werden, die eine Verbindung zwischen Begriffen und Gefühlen schaffen […]. Die Geschichte eines neuen Zusammenlebens aber braucht sie, um entstehen zu können und denkbar zu werden.“[12]
Es braucht ein zweites Zeitalter der Aufklärung das an das erste anknüpft. Das erste war geprägt von der Freiheit von der Verinnerlichung gottgegebener Strukturen, das zweite bringt die Freiheit von der Verinnerlichung ökonomischer Strukturen, die sich als unabänderlich – und schier religiös – in das Bewusstsein eingebrannt haben. Hierzu sind Quantentheorie und Erkenntnisse der Quantenphysik metaphorisch zu integrieren, um so die beherrschende Illusionslosigkeit, Angst und bleierne Regungslosigkeit zu überwinden.
„Schon Kant betonte, dass die Aufklärung ein niemals abgeschlossener Prozess ist. Die Umstände, unter denen Menschen aufwachsen und sich in ihrem Denken emanzipieren müssen, wechseln immer wieder.“[13]
“Wer aber von Furcht beherrscht wird, der ist nicht fähig, vernünftig zu argumentieren […], ist aber das Gehirn verwirrt, so glaubt man alles und prüft nichts. Unwissenheit und Furcht – dies sind die Hebel aller Religionen […]. Die Furcht wird dem Menschen zur Gewohnheit und schließlich sogar zum Bedürfnis; er würde glauben, es fehle ihm etwas, wenn er nichts zu befürchten hätte.“[14] Aus dieser Angst heraus bringt die Gesellschaft die größten Opfer und glaubt an jedes ökonomische Heilsversprechen – und sei es mit wissenschaftlichen Fakten oder gesundem Menschenverstand bereits widerlegt.
Untrennbar in diesem Konzept der Gesamtheit vernetzter Zusammenhänge ist damit auch die Verantwortung verbunden, einzubetten in ein universell gültiges Prinzip, das der Orientierung im Ganzen des Lebens gerecht wird mit seinen Abständen und Näheverhältnissen zwischen den Dingen und den Rhythmen und Resonanzen. Es geht darum, den Sinn für die Verhältnismäßigkeit der Dinge zueinander wieder zu erlangen, diese wieder in ihrer Gesamtheit wahrzunehmen, die Indifferenz gegenüber allen Werten zu überwinden.
Definiert wurde eine solch universelle Orientierung als unbedingt und ausnahmslos geltendes Prinzip bereits vor 250 Jahren in vollkommener Helligkeit durch Immanuel Kant. Der Kernsatz der Philosophie Kants – „die Weltformel der menschlichen Moral“ (Tobias Hürter) - lautet: „Handle so, dass die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne!“[15]
„Damit hat Immanuel Kant den Möglichkeitsraum des Menschen neu vermessen, einen Raum, der […] sich erst erschließt, wenn wir das ‚moralische Gesetz‘ in uns entdecken und zur Richtschnur unseres Lebens machen.“[16] Zu alledem muss sich die Aufhebung des Verständnisses stellen, das Kunst und Wissenschaft als Unterschied, ja Entgegensetzung betrachtet, sondern diese wieder als Gesamtbild, als natürliches Gesamtkonzept begreift, als einen Komplex aus Wissen und Können, Wahrnehmen und Denken mit den sich damit ergebenden Möglichkeiten. Hierfür braucht es einen übergeordneten Rahmen zur Absicherung von Würde und Souveränität, damit „jede/r nach seiner Façon selig werden kann“ (Friedrich II).
Peter Bieri: „Das kulturelle Gewebe, in dem Menschen leben, ist weder einheitlich noch unveränderbar […]“[17] und auch immer mit Verantwortung, Mündigkeit und Freiheit verschränkt. Zu den Verschränkungen, die dazu beitragen dem Gesamtgefüge mit wichtigen Kategorien Stabilität zu verleihen, zählt die historische Urteilskraft. „Historische Urteilskraft setzt voraus, den eigenen Blick kritisch zu hinterfragen, die Begrenzungen des eigenen Sichtfelds wahrzunehmen und so verschiedene Perspektiven anzuerkennen. Wer in diesem Sinne urteilt, orientiert und positioniert sich in der Welt – und in der Geschichte.“[18]
Ästhetische Dimensionen formen Subjektivität und sind eingebunden in eine größere Wahrnehmungsgemeinschaft. Sie beruhen auf vernetztem Denken und entstehen nicht zuletzt kreativ. Denn Kreativität verbindet frei von Gesetzmäßigkeiten bisher unverbundenes, setzt vorhandene Elemente neu ordnend zusammen, strukturiert Möglichkeiten, verschiebt Grenzen und handhabt Friktionen konstruktiv.
Die ästhetische Erscheinung ist ein zusammenhängendes Gefüge und komplexes Geflecht, das sich als individuelle Anschauung in der subjektiven oder pluralistischen Wahrnehmung nur in ihren Teilen erschließt. Ästhetische Erkenntnis ist insofern immer unvollständig. Somit bestehen immer erweiternde, potenzielle Möglichkeiten – nicht jedoch deren objektiver Charakter. Dies entspricht Deutungsmöglichkeiten, Aussagen und Erkenntnissen aus der Quantenphysik, die zunehmend unsere Wahrnehmung der Realität mit ihren Implikationen für das Alltagsverständnis verändern, wobei immer deutlicher zutage tritt, dass die Welt weniger fix und linear und vielmehr verbunden verstanden werden muss, als dies bislang der Fall war.
Passt dazu Anton Wilhelm Amos Apatheia, 82: „[…] ‚Leben‘ und ‚existieren‘ sind nicht Synonyma. Alles, was lebt, existiert, aber nicht alles, was existiert, lebt“?[19]
„Es handelt sich in der Quantentheorie um eine neue Art, die Wahrnehmungen zu objektivieren. […] Jede Wahrnehmung bezieht sich auf eine Beobachtungssituation, die angegeben werden muss, wenn aus Wahrnehmung auch Erfahrung folgen soll […]. Damit kann die Quantentheorie als Physik der Beziehungen und Möglichkeiten charakterisiert werden. Diese Beziehungen erzeugen gegenüber einem bloßen additiven Nebeneinander Ganzheiten, die sehr viel mehr sind als die Summe ihrer Teile, wobei diese Teile nicht mehr eigenständig, sondern letztlich nur noch virtuell der Möglichkeit nach existieren.“[20]
Im Ganzheitscharakter der Quantentheorie „[…] dagegen sind die Möglichkeiten eines Systems festgelegt, nicht jedoch deren Realisierung als Fakten […]. Da diese möglichen Fakten jedoch nur im Rahmen der naturgesetzlichen Möglichkeiten realisierbar sind, hat der quantenphysikalische Zufall nichts mit einer strukturlosen Willkür zu tun.“[21]
Eine Erweiterung des konzeptiven Verständnisses der Welt mit noch nicht absehbaren Einflüssen – nicht zuletzt auf die Philosophie.
Dies kann ganz im Sinne von Kant verstanden werden, wonach wir nie im Stande sein werden, das „Ding an sich“ zu erkennen und sich die Welt uns vielmehr „nur“ in ihrer gegebenen Komplementarität erschließt.
Die ästhetische Stabilisierung wird damit nicht zuletzt auch zu einem erkenntnispraktischen und zugleich/sowie -theoretischen Unterfangen.
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[1] Siehe 32
[2] Eisler, Rudolf: »Kant Lexikon«. Hildesheim, 2015. Nachdruck der Ausgabe Berling 1930. Weidmannsche Verlagsbuchhandlung.
[3] Dr. Phi. Dellbruegger, Guenther: »Das Wahre ist das Ganze – Hegels ringen um eine menschliche Intelligenz«. 2020. Verlag Urachhaus.
[4] Kant, Immanuel: »Rechtslehre – Einleitung in die Metaphysik der Sitten«. Königsberg, 1797.
[5] Vilas, Manuel: »Die Reise nach Ordesa«. 2020, Berlin Verlag.
[6] Reitz, Michael: »Das Denken Pierre Bourdieus im 21. Jahrhundert – Noch feinere Unterschiede?«. 26.11.2017, Deutschlandfunk
[7] Matcalf, Stephen: »Die Idee, die die Welt verschlingt«. 21.12.2017, Der Freitag.
[8] Graupe, Silja: »Viele wollen sich einmischen«. 30.06.2020, der Freitag.
[9] Mann, Thomas: »Der Zauberberg«. 1982, Büchergilde Gutenberg.
[10] Diderot, Denis e.a.: »Encyclopédie ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers«. 1751, André le Breton.
[11] Kindsmüller, Werner: »Insolvenz Der Moderne – Warum wir neue Wohlstandsmodelle brauchen«. 2015, Band 1, tredition Verlag.
[12] Vgl. 14
[13] Hürter, Tobias: »Ich sehe das anders«. 19.10.2018, Die Zeit.
[14] d’Holbach, Paul Henri Thiry: »Der gesunde Menschenverstand – Aufklärerische Streitschrift und grundlegendes Dokument der Religionskritik«: 2016, Alibri Verlag:
[15] Vgl. 22
[16] Vgl. 38
[17] Bieri, Peter: »Wie wollen wir Leben? – Ich möchte in einer Kultur der Stille leben, in der es vor allem darum ginge, die eigene Stimme zu finden«. 2013, Deutscher Taschenbuch Verlag.
[18] Gross, Raphael: »Historische Urteilskraft«. 2019/01, Magazin des Deutschen Historischen Museums.
[19] Amo, Anton Wilhelm: »Apatheia, 82«. Dissertation 1734, Universität Wittenberg-Halle. In: polylog.net – Ausgabe 25/2011: Bekele Gutema: »Anton Wilhelm Amo«
[20] Heisenberg, Werner: »Quantentheorie und Philosophie«. 1979, Reclams Universalbibliothek.
[21] Mann, Frido und Christine: »Es werde Licht – Die Einheit von Geist und Materie in der Quantenphysik«. 2017, S. Fischer Verlag
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Zitate, Literatur, Empfehlungen
Amo, Anton Wilhelm – Diss. 1734, Universität Halle-Wittenberg.
Arendt, Hannah – The Aftermath of Nazi Rule: Report from Germany – Oct. 1950, Comentary Magazine.
Assheuer, Thomas – Was macht der Weltgeist? – 06.08.2020, Die Zeit.
Bauer, Thomas – Die Vereindeutigung der Welt – Über den Verlust an Mehrdeutigkeit und Vielfalt – 2018, Reclams Universalbibliothek.
Beschorner, Florian und Krause Florian – Algorithmen entscheiden nichts – 16.08.2021, philosophie magazin.
Bieri, Peter – Wie wollen wir Leben? – Ich möchte in einer Kultur der Stille leben, in der es vor allem darum ginge, die eigene Stimme zu finden – 2013, Deutscher Taschenbuch Verlag.
Blom, Philipp – Das große Welttheater – Von der Macht der Vorstellungskraft in Zeiten des Umbruchs – 2020, Paul Zsolnay Verlag.
Bourdieu, Pierre.
Bragg, Billy – Die drei Dimensionen der Freiheit – Ein politischer Weckruf – 2019, Wilhelm Heyne Verlag.
Decker, Samuel – Traut Euch! – 02.07.2020, der Freitag.
Dierksmeier, Claus – Qualitative Freiheit – Selbstbestimmung in weltbürgerlicher Verantwortung – Mai 2016 – transcript-Verlag.
Enthoven, Raphaël – Diderot und die Freiheit – Nr. 6 2017, Philosophie Magazin.
Prof. Dr. Gabriel, Markus – (Carla Braun) – Es ist eine verkehrte Welt, wenn Gutmensch ein Schimpfwort ist – 02.08.2020, Zeit Magazin.
Graupe, Silja (Pepe Egger) – Viele wollen sich einmischen – 30.06.2020, der Freitag.
Gross, Raphael – Historische Urteilskraft – 01 2019, Magazin des Deutschen Historischen Museums.
Han, Byung-Chul – Vom Verschwinden der Rituale – Eine Topologie der Gegenwart – 2019, Ullstein Verlag.
Heisenberg, Werner – Quantentheorie und Philosophie – 1979, Reclams Universalbibliothek.
Hessel, Stéphane – Empört Euch! – 2011, Ullstein Verlag.
Hochmann, Lars – Wir müssen Wirtschaft grundlegend neu denken – 27.08.2020, Capital.
d’Holbach, Paul Henri Thiry – Der gesunde Menschenverstand – Aufklärerische Streitschrift und grundlegendes Dokument der Religionskritik – 2016, Alibri Verlag.
Hugo, Victor.
Hürter, Tobias.
Kant, Immanuel.
Harry Graf Kessler.
Kindsmüller, Werner – Insolvenz Der Moderne – Warum wir neue Wohlstandsmodelle brauchen – Band 1, 2015, tredition Verlag.
zur Lippe, Rudolf – Neues Denken – warum und wie? Herbst – 2005, Forum Futur, Zukünfte 51.
Löw, Martina, Volkan Sayman, Jona Schwerer, Hanna Wolf (Hg.) – Am Ende der Globalisierung – Über die Refiguration von Räumen – 2021, transcript Verlag.
Mallarmé, Stéphane – La musique et les lettres – 1895, Libraire Académique Didier.
Mann, Frido und Christine – Es werde Licht – Die Einheit von Geist und Materie in der Quantenphysik – 2017, S. Fischer Verlag.
Mann, Thomas – Der Zauberberg – 1982, Büchergilde Gutenberg.
Nöfer, Tobias (und Michael Psotta) – In Kopenhagen ist man schon weiter – 10.01.2020, Frankfurter Allgemeine Zeitung.
Peteranderl, Sonja – Ein Himmel, der mit fliegenden Autos übersät ist, wäre ein Albtraum – Indigene Stadtplanung – 12.04.2021, Der Spiegel.
Pfaller, Robert – Die blitzenden Waffen – Über die Macht der Form 2020, S. Fischer Verlag.
Schmüser, Caroline mit Theresa Bäuerlein – Geschlechterklischees – 14.01.2021, krautreporter.
Shaviro, Steven – Akzelerationistische Ästhetik, in: Die Pinocchio Theorie – 2018, Merve Verlag Leipzig.
Szymanski, Mike – Das Haßloch Experiment – Der deutsche Testmarkt – 19.05.2010, Süddeutsche Zeitung.
Tönnesmann, Jens – Glücklich enteignet – 06.08.2020, Die Zeit.
Vahland, Kia – Erobert die City zurück – 03.08.2020, Süddeutsche Zeitung.
Vilas, Manuel – Die Reise nach Ordesa – 2020, Berlin Verlag.
Vinken, Barbara – Mode in der Pandemie – Willkommen in der Hypermoderne! – 23.03.2021, Frankfurter Allgemeine / Debatte.
Wieland, Dieter – Wir brauchen eine neue Aufklärung – 03.01.2020, OPEN SPACE ZEITZ.
Zeilinger, Anton – Quantenphysiker.
Zweig, Stefan – Die Monotonisierung der Welt – 1990, S. Fischer Verlag
Die ästhetische Instabilität – eine essayistische Montage in 4 Teilen (Teil 3)
TEIL III
Die digitalen Räume der menschlichen Existenz
Der Raum menschlicher Existenz, von der individuellen bis hin zur globalen Ebene, wird durch die unaufhaltsame Digitalisierung mehr und mehr verändert und ausgedehnt. Zudem kommen immer mehr Räume in den unterschiedlichsten Bereichen des Lebens hinzu und werden miteinander verwoben. Die Ausstattung und Ausgestaltung dieser Räume befinden sich in einem ständig fortschreitenden Prozess.
Begleitet wird diese Entwicklung von Gefühlen des Unbehagens, konkreten und diffusen Ängsten, von psychologischer Verdrängung und Abwehr – nicht zuletzt ein Signal für ästhetische Instabilität.
Denn wir können uns noch kein Bild vom Ganzen machen. Erkenntnisse bleiben nur Aggregate und sind noch weit entfernt von der Erkenntnis des Systems als Ganzem, das letztendlich mehr als die Summe aller Teile sein wird.
Dieser Prozess ist Teil der Globalisierung, die bislang von wirtschaftlichen Interessen vorangetrieben wurde. Doch sie ist weit mehr als ein wirtschaftlicher Vorgang. Die Verflechtungen vollziehen sich ebenso auf wissenschaftlicher, politischer und kultureller Ebene.
Immer deutlicher wird die immer größer werdende Komplexität. Gleichzeitig hat die Covid-19-Pandemie erheblich zu der Erkenntnis beigetragen, dass die lebenswerte Zukunft in einer globalisierten Gesellschaft nicht allein vom Leistungsgedanken und von Gewinnmaximierung getrieben werden darf – zumal die Beweise offen auf dem Tisch liegen, dass ungeregelte Wirtschaftsfokussierung Gesellschaften zerstört und rechtsnationale, faschistische Tendenzen begünstigt.
„Es braucht auch Gemeinsamkeiten, die mit der Sprache oder einer wohldefinierten Mehrsprachigkeit der Rechtstexte und öffentlichen Debatten beginnen. Mit der Wirtschaft verdient eine Gesellschaft ihren Lebensunterhalt, mit Recht, Menschenrechten und Demokratie genügt sie dem Leitwert der Gerechtigkeit. Ihren Zusammenhalt findet sie aber über die Sprache, ferner über Wissen und Philosophie, nicht zuletzt über Literatur, Musik, Kunst und Architektur.“[1]
Die Entgrenzung von Lebensräumen
Ästhetisch beschwert werden die digitalen Entwicklungen durch die Entgrenzung der Räume: Es verschwimmen Realität und Fiktion, Fakten und Emotion, Objektivität und Subjektivität. Und diese Grenzen sind fließend und lösen sich auf, Übergänge lassen sich nur schwer oder überhaupt nicht definieren.
Diese Entgrenzung zieht psychologische Komponenten mit kognitiven und emotionalen Strukturen im Schlepptau mit. Menschliche Fähigkeiten und Kompetenzen zur Gewinnung von Erfahrungen und Erkenntnissen werden externalisiert, unkritisch, ja hilflos und in Teilen fatalistisch an Maschinen abgetreten. Eigenes, selbständiges Denken und Fühlen wird an eine vermeintlich höhere, nahezu allmächtige Instanz übertragen. Wie alt schon ist der Satz: „Es tut mir sehr leid, aber der Computer sagt ‚Nein‘.“
Der gesellschaftliche und internationale Diskurs rund um die Themen Digitalisierung und KI müssen auf dem Radar einer breiten Öffentlichkeit stattfinden – und nicht wie noch derzeit noch darunter, damit verbindliche Normen entstehen können.
Immerhin hat die Politik auf europäischer Ebene Handlungs- und Regelungsbedarf erkannt. Von der Europäischen Kommission wurde ein Weißbuch erarbeitet: „Zur Künstlichen Intelligenz – Ein europäisches Konzept für Exzellenz und Vertrauen“.[2] Dieses Whitepaper ist auch unter dem Gesichtspunkt der darin gewählten Sprache interessant, die sich am Verständnis von KI als zusammenhängendes Ökosystem orientiert.
Die in Deutschland für einen Teil der Bevölkerung eingeführte Corona-Warn-App ist ein beredtes Beispiel für einen Raum, den viele aus den unterschiedlichsten Gründen nicht betreten haben. Abgesehen von den im Vorhinein bekannten Hürden (z.B. der Besitz eines Mobilfunkgerätes an sich und nur als neueres Modell mit entsprechenden Funktionen), wurde die emotionale Ebene technokratisch vollkommen außer Acht gelassen. Im Fokus waren allein die technische Realisierung und Funktionsweise. Zudem hatten die enormen Kosten einen Beigeschmack, waren doch leistungsfähigere und erprobte Apps verfügbar – auch mit der Möglichkeit von europäischer Vernetzung.
Mit dem Verweis auf datenschutzrechtliche Grenzen wurden sinnliche Wahrnehmung, emotionales Lernen, Sammeln von Erfahrung, Herstellen von Zusammenhängen und Gewinnen von Erkenntnissen nur sehr begrenzt ermöglicht – mit dem bekannten Ergebnis.
Die Kernfragen der Digitalisierung
Dieses Beispiel macht Kernfragen und -probleme greifbar, die die Digitalisierung determinieren, werden immer greifbarer:
Wer in welchen Abhängigkeiten, mit welchem Psychogramm, mit welchem Weltbild und welchem Weltverständnis, mit welcher Motivation und welchen Motiven entwickelt und implementiert – und: wie gestaltet sich die Einführung, die Anwendung, wie entwickelt sich die Akzeptanz.
„Im Wortspiel der „Künstlichen Intelligenz“ verwechseln wir zwei fundamental verschiedene Kategorien: das Lösen strategischer Probleme, das sich als Intelligenz interpretieren lässt. Und das Bewusstsein, das in der Fähigkeit besteht, auf die Komplexität der Welt durch Kreativität und Gefühl zu antworten. Gefühle, Instinkte, Stimmungen, Wahrnehmungen, Berührungen sind Teil des Bewusstseins. Sie setzen uns in Beziehung zur Welt und zu uns selbst.“[3]
BCI
Ein Zukunftsraum der Digitalisierung, der immer größer und wichtiger wird, der immer konkretere Formen annimmt und immer mehr in den Alltag eintritt, sind „Brain Computer Interfaces, kurz: BCI (Synonym: Brain-Machine-Interfaces – BMI).
Diese „ermöglichen eine direkte Informationsübertragung zwischen einem organischen Gehirn und einem technischen Schaltkreis. Durch das Auslesen von Gedanken bzw. mentalen Befehlen können sie als neurotechnologische Eingabesysteme eine sprach- und bewegungsunabhängige Maschinensteuerung vermitteln.“[4]
Und:
„Noch ist die Vision einer schnellen, intuitiven und präzisen Gedankenkontrolle von Computern und Maschinen Zukunftsmusik, der beutende technologische Herausforderungen entgegenstehen...Ein besseres Verständnis darüber, wie neuronale Signale erfasst, interpretiert und sogar beeinflusst werden können, könnte langfristig den Weg für disruptive Entwicklungen ebnen. Bidirektionale BCI-Systeme, die sowohl Informationen auslesen als auch Signale ins Gehirn einspeisen können, könnten in ferner Zukunft eine maschinenvermittelte Hirn-zu-Hirn-Kommunikation ermöglichen und einen Grad organisch-technischer Interaktion erschließen, der die Grenzen zwischen Menschen und Maschine verschwimmen lässt.“ Diese signifikanten Fortschritte sind jedoch abhängig „davon, wie weit BCI gesellschaftliche Akzeptanz gewinnen können.“[5]
Für diese Akzeptanz ist es unerlässlich, dass den Fortschritt nicht allein die Gewinnmaximierung von Unternehmen determinieren.
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[1] Höffe, Ottfried: »Globalisierung? Ja bitte! – Warum universale Werte nicht nur westliche Werte sind«. 21.07.2007, WELT.
[2] EU-Kommission: »WHITE PAPER on Artificial Intelligence - A European approach to excellence and trust«. 19.02.2020. Eur-lex.europa.eu: Dokument 52020DC0065, (COM/2020/65 final).
[3] www.zukunftsinstitut.de/artikel/digitalisierung/6-thesen-zur-kuenstlichen-intelligenz/
[4] Dr. Heuer, Carsten M.: »Brain-Computer-Interfaces« in: Europäische Sicherheit & Technik. Dezember 2015. Das Fraunhofer-Institut für Naturwissenschaftlich-Technische Trendanalysen berichtet über neue Technoligien.
[5] Ebd.
Die ästhetische Instabilität – eine essayistische Montage in 4 Teilen (Teil 2)
TEIL II
Die Orientierungslosigkeit der Mode?
In memoriam Prof. Dr. Dr. Harald Brost
Den Zeitgeist herauszufinden heißt, „nach der Schwangerschaft der Zeit zu fragen“, denn „Mode ist die in Farbe getauchte und in Falten gelegte Geschichte und Ausdruck einer Zeit.“[1]
Die ästhetische Instabilität kommt nicht zuletzt auch in der gegenwärtigen Mode zum Ausdruck: Überfeinerungen, Übersteigerungen und Wiederholungen modischer Elemente, Farben und Formen – insbesondere aus vergangenen Jahrzehnten – multiple, sich überlappende Richtungen mit einem Mischmasch aus Vintage und Neu – wobei im Neuen zwischen niedrig- und hochpreisig qualitativ kaum mehr zu unterscheiden ist – bieten keine Orientierung mehr und stecken gefühlt in einer Sackgasse. Doch mag es keine Orientierungslosigkeit sein, sondern kann vielmehr als ein Ausdruck verstanden werden für die Suche nach einem Weg in eine neue Zeit. Die Wellenbewegungen unterschiedlicher Richtungen schlagen hoch aus und glitzern oberflächlich als fortschreitende Individualisierung: Eine schmerzhafte Suche im iterativen Ausprobieren, dem Aufheben von Weiblichkeit und Männlichkeit und der Gleichzeitigkeit stereotyper Frauen- und Männerbilder – wie sie in multipler Ausprägung auf Instagram repetitiv gefüttert wird. „Eine Generation junger Männer zeigt gerade, dass ihr gendertypische Kleidung am Allerwertesten vorbeigeht.“[2]
In einer anderen gesellschaftlichen Schicht findet sich ein fast bis hin zur Tracht geronnener von britischen Vorbildern geprägter Stil einer Mittelschicht-Hegemonie, die diesen seit den Achtzigern adaptiert hat und bis hin zum social suicide – dem sozialen Selbstmord – nicht mehr von ihm lassen will. Einen Stil, der die britische Aristokratie kopieren will, den es in dieser Pastiche als Imitierung allerdings nie gegeben hat.
„Die Mode bietet einen […] Reichtum an soziologischen und kulturwissenschaftlichen Erkenntnissen darüber, wie sehr unsere zweite Haut Denk- und Glaubensmuster prägt und seither geprägt hat.“[3]
Sie wird insbesondere im deutschen Kulturkreis als trivial, nichtssagend und vernachlässigbar abgetan. Doch ist sie vielmehr eine wissenschaftliche, theoretische und philosophische Erfassung von wesentlichen Dingen, die sowohl induktiv als auch deduktiv Rückschlüsse und Erkenntnisse ermöglicht.
Im Pendelschlag und im Fortschreiten der Menschheitsgeschichte ist die Mode innerliche und äußerliche Selbstbehauptung – bis hin zur Neurotisierung. Sie gibt sich nicht zufrieden mit den aktuell gültigen Bekleidungsformen und ist – im Besonderen in diesen Zeiten – geradezu hospitalistisch im Abgleich vom Jetzt und Dann und Seismograph für sich verändernde Wertevorstellungen und soziologische Entwicklungen.
Befinden wir uns vor einem gesellschaftlich-politisch-ideologischen Bruch, weil das geistige Spiegelbild nicht mehr mit der Realität übereinstimmt, der Raum ästhetisch nicht mehr als stimmig empfunden wird? Und: ist darin ein Ausdruck der Zerstörung eines ganzheitlichen Lebensgefühls zu erkennen, das durch immer mehr Konsum, immer mehr Angst aus der vermeintlich sicheren Konformität auszubrechen gekennzeichnet ist? Denn auch andere Modeströmungen sind mittlerweile in Konformität auf Grund gelaufen.
Seit Jahren ist eine Verfestigung und Abgrenzung von Milieuzuordnung, -zugehörigkeit und Habitus beobachtbar: immer stereotyper, immer rigider, immer militanter und vorhersehbarer, mit „signature-pieces“ und „must-haves“ inklusive PKW-Vorlieben, Urlauben und Wohnungseinrichtungen sowie Restaurants und Freizeitaktivitäten – in immer größerer Emotionalisierung und Infantilisierung, mit aggressiv nach außen getragenem Maßstab in den Grenzen des eigenen Horizonts.
Wie besessen wird an ikonisierten Bildern festgehalten, die „la dolce vita“ der High Society mit Gunilla Gräfin von Bismarck tanzend auf dem Tischen in Marbella identifiziert und vom längst versunkenen Flair von Saint Tropez nicht loslassen will und den mörderischen Spaß des wilden Treibens im Studio 54 in New York der späten Siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts, in der Hasenheide in Berlin des 21. Jahrhunderts trotzig verzweifelt weiterfeiert.
Auch in der Mode fehlt es an Orientierung und einem entwickelbaren Zukunftsbild bzw. findet in der aktuellen Mode die Abstiegsphase einer Zivilisation ihren Ausdruck – einer Zivilisation, der es mehr und mehr an zivilisierten Umgangs-Formen so sehr mangelt. Ein prägnantes Beispiel für zivilisatorische Rokoko-Dekadenz sind Messen für Millionäre und Milliardäre, auf deren Marktplatz einem gesellschaftsmüden Publikum selbstbespiegelnde, ästhetisch fragwürdige Produkte präsentiert werden.
Ist hier ein Unterschied z.B. zu Luxusgegenständen Friedrichs II. von Preussen? Diese wurden anlässlich seines 300. Geburtstags in einer aufwändig kuratierten Ausstellung im Neuen Palais 2012 in Potsdam präsentiert und zusammen mit „Schatullenrechnungen“ ins Verhältnis zu durchschnittlichen und konkreten Lebenshaltungskosten seiner Untertanen gestellt – die Welten in diesen Unterschieden sprechen für sich. Es geht „um die Überwindung der hierarchisierten Subjekt/Objekt-Dichotomie, die die Moderne bestimmt. Subjekt unterwirft Objekt, Mensch unterwirft Welt und Andere.“[4]
Der jüngste modische Fauxpas einer Luxusmarke sei hier als augenfälliges und aktuelles Beispiel erwähnt: ein Corona-Acrylschild für ca. 1000 EUR, das nutzlos lediglich dazu dient, undefinierbare Emotionen zu befriedigen, sich gesellschaftlich zu erhöhen und dabei die Kassen zu füllen, den Aktienkurs auf Linie zu halten. Der hegemoniale Anspruch einer Elite wird immer luzider und verbirgt sich immer mehr.
Läden für dieses Klientel haben keine Schaufenster mehr, sondern nur noch Adressen in den teuersten Bezirken begehrter Metropolen mit diskreten Messingschildern, die weder erahnen lassen noch verraten, was in den Räumen drinnen an Waren oder Dienstleistungen feilgeboten wird.
Zu alledem kommt hinzu, dass überkommene Codes nicht mehr gelesen werden können und sich auflösen bzw. sich dermaßen überfeinern und damit für alle Welt sichtbar und unübersehbar werden: Vormals angesehene, hofierte und seriöse Manager mit überdurchschnittlichen Bezügen sind in ihrer Kluft durch ihr beseibelndes Agieren mittlerweile eher der Halbwelt zuzuordnen, mit dem sie eine ganze Zunft in Verruf bringen und damit Maßstäbe verschieben und entwerten – Banker sitzen in ihrer Uniform 40 Stunden in der Woche allein in einem Büro vor dem Rechner, doch es fehlt der Kontakt, für den das Tragen dieses Aufzugs einen Sinn ergibt und lediglich der eigenen Aufwertung gegenüber Mitarbeitenden dient – schwule Männer sind nicht mehr zu erkennen und werden in ihren Codes von Männern aus dem islamischen Kulturkreis abgelöst, die sich übergepflegt präsentieren und keine schwulen Affinitäten auslassen, während ihre Frauen sich in der Öffentlichkeit verhüllen müssen (ein umso bemerkenswerterer Umstand, ist dieser Habitus mit einer bisweilen hochaggressiven und mit Gewalt ausgetragener Homophobie eng verbunden).
In einem anderen beobachtbaren Trend verweigern sich heterosexuelle Frauen und Männer selbstgefällig strikt äußerer Pflege und Schmuck, um unter keinen Umständen einem Stereotyp zu entsprechen, werden auf diese Weise selbst zu einem Stereotyp und tragen ihr Leiden an sich und der Gesellschaft als ästhetisches Malheur für alle sichtbar nach außen.
Mode ist nicht mehr und nicht weniger Zeitgeist mit allen vorhandenen gestalterischen Möglichkeiten im subjektiven Wechselspiel zwischen innen und außen. Sie ist Differenzierung, Distinktion und Nachahmung, Identifizierung und Ausdruck einer Persönlichkeit. Sie war und ist in allen Zeiten ein ästhetischer Ausdruck ihrer Zeit, eine unmittelbar auf die Person bezogene Gestaltungsfrage, selbst wenn sich diese in einer Art Verweigerungshaltung äußert. Sie ist eine kommunikative Mittlerin zwischen Individuum und Gesellschaft vollzogen in Hegelscher Dialektik.
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[1] Prof. Dr. Dr. Harald Brost – FH Trier 18.10.85 und 24.04.1987.
[2] Schmüser, Caroline; Bäuerlein, Theresa: »Geschlechterklischees«. Krautreporter.de, 14.01.2021
[3] br.de: »Mode: Spiegel der Gesellschaft«, 23.07.2019
[4] Vinken, Barbara: »Mode in der Pandemie – Willkommen in der Hypermoderne!«. FAZ, Debatte, 23.03.2021
Die ästhetische Instabilität – eine essayistische Montage in 4 Teilen (Teil1)
TEIL I
Einleitung
Bisweilen braucht es nur die Art eines Augenaufschlags, die Wellenlänge einer Falte, die Worte eines halben Satzes, um durch diesen Eindruck eine ganze Welt, ein ganzes System entstehen zu lassen.
„Alles mündet in die Ästhetik und die politische Ökonomie“, schreibt Stéphane Mallarmé[1]. Und der Medienwissenschaftler Steven Shaviro entgegnet: „Die Ästhetik steht in einem besonderen Verhältnis zur politischen Ökonomie, und zwar gerade weil sie der einzige Gegenstand ist, der nicht auf politische Ökonomie reduziert werden kann.“[2] Die Zusammenhänge zwischen ästhetischer Wahrnehmung und ästhetischem Ausdruck lassen sich als Anschauung des Zeitgeschehens wie die beobachtbare Komplexität des Universums ansehen. In diesen Verschränkungen, Verknüpfungen und Einzelerscheinungen manifestieren sich ästhetische Werturteile. Sie beruhen auf individuellen, pluralistischen sowie kollektiven Wahrnehmungen im gesellschaftlichen Kontext und bilden damit Aspekte der Wirklichkeit.
Die hier miteingefügten Zitate machen deutlich, wie das Thema in den einzelnen Bereichen angefasst und artikuliert, in vielen Facetten entsprechend des eingangs erwähnten Bildes identifiziert wird und sich auf die eine oder andere Weise und immer zahlreicher wiederfindet, doch vor allem, dass es sich dabei nicht um vereinzelte, einsame Rufer in der Nacht handelt. Meine Darlegungen zur ästhetischen Instabilität im aktuellen Zeitgeschehen verstehe ich mit Blick auf Deutschland und aus Deutschland heraus im Sinne einer komprimierten kritischen Analyse ästhetischer Erfahrung – denn Denken verändert Handeln.
Die Gegenwart
„Die Zwänge der politischen Ökonomie können der Ästhetik durchaus im Weg stehen, […]denn wir leben in einer Zeit, in der die Finanzmechanismen schlichtweg alles subsumieren, was es gibt.“[3] Die vergangenen Jahrzehnte zeichnen sich durch eine immer größere ästhetische Instabilität aus, deren Ausmaße sämtliche Bereiche des gesellschaftlichen Lebens erfasst und mit einem mehrdimensionalen Verlust an Werten und Würde einhergeht. Es ist ein Niedergang, der sich durch einen finsteren Konformismus und einem damit einhergehenden „Verlust an Mehrdeutigkeit und Vielfalt“[4] auszeichnet – gleichlaufend mit dem Verschwinden von Vielfalt in Fauna und Flora. Ihren Ursprung haben diese Phänomene in der zunehmenden politischen Instabilität, die um das irrationale Primat der Wirtschaft als goldenes Kalb einen immer meschuggeneren Tanz aufführt.
„Wie selbstverständlich“ wird „uns mit auf den Weg gegeben, dass wir miteinander konkurrieren und uns anpassen müssen“ und „dass nämlich Wettbewerb das einzig legitime Organisationsprinzip menschlichen Handelns ist.“[5]
Wenn Ästhetik eine komplexe Wahrnehmung ist, die die Sinne anspricht und das Unsichtbare erfassbar macht – wenn diese sinnliche Wahrnehmung und deren Deutung die Grundlage unseres Weltverständnisses bilden – wenn sich dank der daraus resultierenden Erkenntnisse dynamische Möglichkeiten ergeben, die Wirklichkeit werden können, dann stellt sich die alles überragende Frage: Welches ästhetische Narrativ ist abhandengekommen, dass der gesellschaftliche Raum nicht mehr als stimmig empfunden wird?
Es braucht eine Neuvermessung der ästhetischen Landkarte, die vereinzelte und parzellierte Dimensionen der Gesellschaft wieder wahrnehmbar miteinander verbindet und verknüpft. Nur so lassen sich dann Zusammenhänge und Dynamiken buchstabieren und lesen – in ganzen Sätzen, in Kapiteln, Erzählungen und Bildern – um sich darin wiederzuerkennen und zu verorten – um wieder Verbindlichkeiten, Sicherheiten und Verantwortung abzubilden – um eine selbstbestimmte Macht der alles verschlingenden und entwertenden Ökonomisierung entgegenzusetzen.
Ästhetische Unwuchten sind indes ein symptomatischer Ausdruck für die Omega-Phase, in der sich westliche wie östliche Gesellschaften befinden. Sie haben sich bereits zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts abgezeichnet. Stefan Zweigs hellsichtiger Aufsatz über Die Monotonisierung der Welt thematisiert diese Entwicklung im Weltgeschehen bereits 1925. Seine Beobachtungen rücken heute wieder in das Blickfeld und haben an Aktualität nichts eingebüßt. Ganz im Gegenteil: Fast einhundert Jahre später ist nicht allein in ästhetischer Hinsicht ein desaströser Zustand erreicht, dessen Wurzeln in der totalen Ökonomisierung sämtlicher Lebensbereiche liegen. „[…] Ein leises Grauen vor der Monotonisierung der Welt. Alles wird gleichförmiger in den äußeren Lebensformen, alles nivelliert sich auf ein einheitliches kulturelles Niveau…“[6]
Der Neoliberalismus unterwirft ästhetische Gesamtkonzepte
Mit immer erbitterter Vehemenz und in radikalerer Intensität werden auf allen Ebenen Mittel und Instrumente eingesetzt, um den Stempel einer idealisierten und verklärten Vergangenheit der Gegenwart aufzudrücken und die Zukunft damit ideologisch zu versiegeln. Demokratische Strukturen werden in Frage gestellt und beschädigt, um den Status quo mit seinen Machtstrukturen aufrecht zu erhalten. Ideen und Konzepte werden im Keim erstickt. Weiter reichende Gesamtkonzepte finden nur noch wenig Beachtung, was nicht wundert, wenn alles Handeln ökonomische Konsequenzen hat. Mirnichtsdirnichts verschieben sich Diskurse, bis das ursprüngliche Thema nicht mehr zu erkennen ist oder die Initiative dazu diskreditiert ist:
Die Gesellschaft als Marktplatz, auf dem – privat wie öffentlich – schreierische Scharmützel um Meinungen und Gefühle ausgetragen werden.
Bestes Beispiel hierzu ist die aufkommende globale Klimakatastrophe – jedoch findet sich das Prinzip der Abwehr und Negierung an vielen Stellen des aktuellen gesellschaftlichen und politischen Interregnums.
Insbesondere rechtspopulistische Propaganda schürt das Feuer und erhöht die Temperatur im Kessel: Durch Einschränkung von Freiheiten, Diskriminierung von Minderheiten und Andersdenkenden, mit Wissenschaftsverleugnung, mit einem fundamentalen Hass auf Freiheit und Gleichheit, Liberalismus, freie Presse, Gewaltenteilung, Kultur und deren Ambiguität – die Liste ließe sich endlos fortsetzen – ist Rechtspopulismus im Bunde mit Nationalismus und Andokratie eines der übelsten Furunkel unserer Zeit, genährt von Wut, Gier, Korruption, Menschenverachtung und mit dem Ich im Zentrum einer grandiosen Anmaßung. Eine derart unterkomplexe Kartografie bildet eine Wüste ab und erstickt jedes Leben, jede Zukunft.
Kongruent dazu verbreitet sich die aggressive und oftmals passiv-aggressive Tendenz, komplexe Fragen mit subjektiven Gewissheiten zu beantworten, die nicht in Frage zu stellen sind. Sämtliche zur Verfügung stehende Abwehrmechanismen bestimmen die Psychologie einer narzisstischen Gesellschaft.
„[…] Der wohl hervorstechendste und auch erschreckendste Aspekt der deutschen Realitätsflucht liegt jedoch in der Haltung, mit Tatsachen so umzugehen, als handele es sich um bloße Meinungen…“[7]
Die Menschen sehen sich ohnmächtig, ohne Halt und mit sehr viel Wut einem alles in Frage stellenden Markt ausgeliefert, der keine Gesellschaft kennt, dem keine Grenzen gesetzt werden und sämtliche Aspekte demokratischer Politik ökonomisch analysiert. Individualinteressen zumeist in Zielgruppen-Cluster fragmentiert, schieben sich immer stärker in den Vordergrund. Sie entfernen die Gesellschaften immer weiter vom Gemeinsinn. „Die Gründe, sich zu empören, sind heutzutage oft nicht klar auszumachen – die Welt ist zu komplex geworden […]. Die Welt ist groß, wir spüren die Interdependenzen, leben in Kreuz- und Querverbindungen wie noch nie. Um wahrzunehmen, dass es in dieser Welt auch unerträglich zugeht, muss man genau hinsehen, muss man suchen…“[8]
Europa war ein attraktives Narrativ für einen Raum mit Freiheiten und Frieden, mit freier Bewegung und freier Wahl der Umgebung. Doch auch diese Optionen wurden dem Spiel der sog. Märkte preisgegeben, ohne je ein politisches Gegengewicht zu errichten. Die Möglichkeiten zur individuellen Gestaltung der eigenen Lebenssituation sind immer enger geworden. Eine politische Union war nicht gewollt und wurde als zu utopisch abgetan. Die totale Ökonomisierung hat zu einer Erosion der Idee eines vereinigten europäischen Raumes geführt, die darin gipfelt, dass haltlose nationalistische Zukunftsbilder in extremer Ausprägung derart attraktiv geworden sind, dass unveräußerliche Freiheitsrechte und -pflichten ohne Gegenwehr und Widerstand aufgegeben oder gar als Bedrohung empfunden werden – eine verheerende ästhetische Verwüstung.
Die Gleichschaltung von Städtelandschaften
Dieses Kapitel widme ich ausdrücklich dem Fernsehjournalisten Dieter Wieland, der in jahrzehntelange, Engagement mit zahlreichen Beiträgen für den Erhalt gewachsener Kulturlandschaften kämpft. Mit seinem aufklärerischen Grundmotiv der „Kunst des Sehens und genauen Hinschauens, ganz einfach nur die Augen öffnen und genau das Gesehene kritisch analysieren“[9] bringt er sich immer wieder aufs Neue gegen die fortschreitende Umweltzerstörung in Stellung.
Ganz konkret sichtbar und erfahrbar wird diese Verwüstung in austauschbarer Architektur, die von Investoren ohne Rücksicht auf die jeweiligen charakteristischen, regionalen Bezüge baut, ohne einen qualitativen Gegenwert, ohne gesellschaftliche Verantwortung. Die Politik hat sich von ihrem Gestaltungsauftrag verabschiedet und kampflos zurückgezogen – im Irrglauben, der Markt wird es auch ohne sie irgendwie zum Nutzen aller regeln.
„Wirtschaft ist […] kein unveränderliches Naturgesetz, sondern das, was sich eine Gesellschaft als Wirtschaft vorstellen kann und was sie schließlich als Wirtschaft behandelt. Dieser Horizont des Denkmöglichen wird durch Wissenschaft miterzeugt und mitbegründet. Insofern ist Wissenschaft keine unschuldige Beschreibung oder Analyse, sondern rüstet die Gesellschaft mit Begriffen, Konzepten und Denkfiguren aus…“[10]
Städte beweinen bis heute traumatisch ihre Zerstörung im Zweiten Weltkrieg. Historisch einmalige und wichtige Baudenkmäler werden zum Beispiel in Dresden wiedererrichtet mit der für die Stadt und weit darüber hinaus Identität stiftenden Canaletto-Silhouette. Doch in unmittelbarer Umgebung wird der öffentliche Raum durch plündernde Investoren-Interessen weiter mit ignoranter und seelenloser Architektur zerstört. Ausgereifte Gesamtkonzepte werden der Gesellschaft durch Wirtschaft und Politik verweigert, Kultur – und darin enthalten u.a. Stadtentwicklung – wird für ökonomische Freiheit von jeder Verantwortung entkoppelt. Was der real existierende Sozialismus, den niemand in seinem Lauf aufhalten sollte, begonnen hatte, führt die Profitmaximierung seelenlos, diesmal mit kapitalistischen Vorzeichen, weiter.
Das Ergebnis ist in Dresden ein Hauptbahnhofsviertel entlang der Prager Straße mit Einkaufspassagen und der Aneinanderreihung der mittlerweile in allen deutschen Städten immer gleichen Filialketten mit den immer gleichen Angeboten – einer hemmungslos profitorientierter Verwertungsstrategie folgend. Und auch dieser Kontrollverlust zeitigt traumatische Folgen, die sich derzeit nur unbewusst Platz schaffen und beispielsweise in einer rigiden ästhetischen Totalverweigerung an die Oberfläche treiben. Auch spielt die Geschichte und deren Kontinuität keine Rolle mehr und wirkt wie abgeschnitten von der Gegenwart.
Weitere Beispiele für ästhetische Verwahrlosungen sind das Heideviertel hinter dem Berliner Hauptbahnhof und gegenüber dem letzten großen Stück Berliner Mauer neben dem Ostbahnhof. Ehemalige Brachflächen, die als entwickelt, modern oder attraktiv betitelt werden, aber nichts anderes sind als unverhohlenes Investoren-Glück, städtebaulicher Hohn, in denen sich der Mensch orientierungslos fragt, ob er gerade in Köln, Berlin, oder München ist. Der öffentliche Raum ist der Gewalt der ökonomischen Monokultur unterworfen, die in ihrem Zwang zur Steigerung eine entsetzliche Tristesse an Läden, Büros und Wohnungen zu verantworten hat.
Dabei ist Architektur eine Kulturtechnik, ihre Formensprache und ihre Verwirklichung ein Ausdruck ihrer Zeit und der Gesellschaftsgestaltung – beruhend auf komplexen Zusammenhängen.
Thomas Bauer fasst es in Die Vereinfachung der Welt wie folgt zusammen: „In Berlin und Stuttgart hat man die Chance vertan, um den Hauptbahnhof Stadträume entstehen zu lassen, die die Menschen schön finden, in denen sie sich wohlfühlen, in denen sie flanieren und entspannen, in denen sie sich treffen und miteinander austauschen können. Stattdessen wird die Fläche mit rechtwinkligen Investorenklötzen zugestellt […]. Aber auch hier gehört […] zum Investorenbunker eine Bevölkerung, die es hinnimmt, dass man ihre Stadt mit einer solchen Architektur zubaut. Sie nimmt es hin, weil man eine solche Architektur als die einzig zeitgemäße propagiert. Weil es aber keinen zeitgemäßen Stil mehr gibt […], hat Schönheit als Kriterium ausgedient. Dies wird hingenommen, weil Schönheit etwas Ambiges ist, weil sie zwar von vielen, aber eben nicht von allen Menschen erfühlt wird. […] Und wieder begegnen wir dem Phänomen, dass Ambiguität dadurch beseitigt wird, dass man ihre Existenz bestreitet. Wenn sich Qualitätsunterschiede nicht mit eindeutigen Kriterien feststellen lassen, dann scheint es einfacher zu sein zu sagen, es gebe keine Qualitätsunterschiede, als über nicht leicht zu präzisierende, aber dennoch vorhandene Qualitätsunterschiede nachzudenken…“[11]
Hieran lässt sich direkt der Berliner Architekt Tobias Nöfer anknüpfen, der in der F.A.Z. schreibt: „Die Architektur der Stadt besteht aus allen Räumen, in denen wir uns bewegen: von der Wohnung über den Hausflur auf die Straße in den Park – da gibt es nichts, wo die Stadt aufhört oder anfängt, das ist ein räumliches Kontinuum. Deshalb ist die städtische Fassade die Innenwand des öffentlichen Raums und verantwortlich für dessen Erscheinungsbild. Sie muss dem Anspruch der Öffentlichkeit auf Dauerhaftigkeit, Nützlichkeit und Schönheit gerecht werden, drei Eigenschaften, die sich jeweils gegenseitig bedingen.“[12]
Der Anspruch der Öffentlichkeit und die Verantwortung greifen in ästhetischer Hinsicht weiter aus, denn es gilt den jeweiligen Puls einer Stadt, einer Gemeinde mit aufzunehmen und ihn in Gestaltung zu übersetzen und ihm einen Ausdruck zu verleihen. Diese Dimension ist europäisches Kulturerbe und hat sich über Jahrhunderte „um den Dreiklang von Marktplatz, Rathaus und Kirche entwickelt.“ Denn „das am Gemeinwesen orientierte Stadtzentrum, auf das sich alle anderen Ortsteile ausrichten, ist Kern des europäischen Selbstverständnisses.“[13]
Wenn Vorstellungen einer „inneren Architektur“ beschreiben, wie das Zusammenwirken mentaler Prozesse organisiert ist, welchen Einfluss nimmt dann die Architektur des uns umgebenden Raumes und löst damit welche Wahrnehmungs-, Denk- und Erkenntnisprozesse aus?
Was aus den Fugen geraten ist und in diesen Entwicklungen ohne Lebensqualität, Anspruch und Verantwortung zutage tritt benennt Philipp Blom: „Die Auflösung und das Verschwimmen sozialer Kategorien und lokaler Strukturen in einen globalen, zentrumslosen Kontext, ist zum Kennzeichen einer Zeit geworden, der die Dynamik der Eskalation längst entglitten ist. [Und so] haben postmoderne Individuen, da ihnen ja sämtliche Utopien und ‚großen Erzählungen‘ abhandengekommen sind, eigentlich auch gar keine große Idee von Schönheit mehr…“[14]
Erinnert Schönheit den Menschen an seine Grenzen? Und kollidieren diese Grenzen mit dem System des ökonomischen Wachstums?
1965 reüssierte der Aufklärer Alexander Mitscherlich (Psychoanalytiker und Stadtkritiker) mit seiner vielbeachteten Anklageschrift über „Die Unwirtlichkeit unserer Städte“. Doch seither hat sich an den angeprangerten Missständen nichts verändert. Ganz im Gegenteil haben sie sich potenziert und verschlimmert.
Die totale Ökonomisierung
Nochmal: Wirtschaft ist eine von Menschen erdachte und gemachte Organisationsform. Sie hat sich über die Menschheitsgeschichte hinweg immer wieder verändert und ist daher auch gestaltbar. Sie ist nicht schwarz oder weiß, nicht alternativlos. Sie ist kein eigenständiger Organismus. Sie ist keine mystische Kraft. Sie ist kein unentrinnbares Schicksal. Denn was für die Wirtschaft gilt – als Teil unserer Zeit und unseres Raumes – hat Marianne Krüll an anderer Stelle für die Ebene der Familie formuliert:
„...auch wir sind für unsere Geschichte, die Teil unserer Familiengeschichte ist, verantwortlich. Wir brauchen sie nicht als unausweichliches Schicksal hinzunehmen, sondern können selbst dazu beitragen, sie neu zu erzählen, neu zu schreiben.“[15]
Warum fahren Millionen von Urlaubern an ihre sog. Sehnsuchtsorte? Und was bringen sie von dort an Eindrücken und Erkenntnissen in ihrem Gepäck mit nach Hause? Es hat den Anschein, dass sie die dortige ästhetische Sprache, in der sie sich immer wieder wohl fühlen und erholen, auch nur dort lesen und übersetzen können. Zurück in Deutschland werden diese Wörterbücher wieder im Gepäck für die nächste Reise verstaut – oder es erfolgt eine eins-zu-eins Übersetzung in der bereits beschriebenen selbstzentrierten Manier, in individualistischer Überhöhung eines quantitativen Freiheitsbegriffs[16], der damit alle anderen Freiheiten relativiert und abwertet.
„[…] Der eigentliche Ruin liegt darin, dass sich eine andere Lösung in der gegenwärtigen Sprache, mit den gegenwärtigen Bildern im Kopf gar nicht denken lässt. So ist es einfacher, weiterzumachen und jedes andere Szenario als Fantasterei oder naiven Unsinn abzutun…“[17] Und damit ist das Interregnum mit all seinen Zeichen gebrandmarkt, in dem sich unsere Gesellschaft aktuell befindet.
Und auch Byung-Chul Han beschreibt die narzisstische Verfasstheit der Gesellschaft: „Das neoliberale Regime vereinzelt die Menschen. Gleichzeitig wird die Empathie beschworen. Die rituelle Gemeinschaft benötigt keine Empathie, denn sie ist ein Resonanzkörper […]. Der gegenwärtige Empathie-Hype ist in erster Linie ökonomisch bedingt. Die Empathie wird als effizientes Produktionsmittel eingesetzt. Sie dient dazu, die Person emotiv zu beeinflussen und zu steuern […]. Die digitale Kommunikation entwickelt sich heute zunehmend zu einer Kommunikation ohne Gemeinschaft […]. Heute produzieren wir uns überall und zwanghaft, etwa in sozialen Medien. Das Soziale wird komplett der Selbst-Produktion unterworfen […]. Der Zwang der Selbst-Produktion ruft eine Krise der Gemeinschaft hervor…“[18]
Alles richtet sich an der einen Kategorie aus, dem linearen Wachstum, das auf seiner einzigen Schmalspurschiene nur dieses eine Kriterium zulässt. Alle anderen Dimensionen und Vielschichtigkeiten werden ausgeblendet, für unnütz erklärt, gegen die pekuniären Aufwendungen aufgerechnet und damit gegen einen nicht bezifferbaren Nutzen ausgespielt – Was habe ich davon? Was hat mein Unternehmen davon? Was hat meine Klientel davon? Die Frage nach dem Zweck liefert die Mittel, um dem Rechenwert Geld alle anderen Wertkategorien zu unterwerfen und damit die Welt ihrer Mehrdeutigkeit zu entzaubern. So ist es auch nicht weiter verwunderlich, dass Geisteswissenschaften im öffentlichen Leben keine Bedeutung, kaum Ansehen mehr besitzen.
Die vollkommene Ökonomisierung in Gestalt des Neoliberalismus hat alle Strukturen und Bereiche des Lebens fest im Würgegriff und beraubt sie des Gefühls der Stimmigkeit. Sie hängt jedem noch so kleinsten Aspekt des menschlichen wie tierischen Lebens ein Preisschild um, schränkt damit die Autonomie des Individuums immer weiter ein und nimmt ihr in weiten Teilen jede Würde, jede Freiheit. „Der Neoliberalismus ist nicht nur die Ideologie oder Weltanschauung dieser Form […], er ist auch, und das ist bedeutender, die konkrete Funktionsweise des Systems. Er besteht aus einer effektiven Reihe von Praktiken und Institutionen. Er bietet sowohl ein Kalkül, um menschliche Handlungen zu beurteilen, als auch einen Mechanismus, um diese Handlungen anzustoßen und zu leiten.“[19] Nur noch was irgendwie berechenbar erscheint, in Währung übersetzt werden kann, wird ein kollektiv anerkannter Wert zugesprochen. Wie kommt es, dass die Märkte und die Wirtschaft Unternehmen einen Millionenwert zuerkennen, der weder durch Umsätze oder Gewinne oder durch angemessene, menschenwürdige Arbeitsverhältnisse oder Innovationen gerechtfertigt ist?
In einer scharfsinnigen Analyse über den „Geist des Kapitalismus“ konstatiert Thomas Assheuer eine von Georg Simmel und Max Weber untersuchte „Synthese von Leben und Geld“, indem „die Zirkulation des Geldes und die Bewegung des Lebens bruchlos ineinander übergehen.“ Diese Verschmelzung bringt einen neuen Sozialcharakter hervor, gerissen und gierig, ebenso geizig wie verschwendungssüchtig, extrem „selbstisch“ und ohne Rücksicht „ethischer Art“.[20]
Erfasst wird davon auch das Thema „Ästhetik“: Diese wird in verdächtige Nischen verdrängt – vergleichbar mit Hecken und Rainen an Ackergrenzen, während auf dem Feld eine Saat aufgeht, die monokulturell Vielfalt durch Polarisierung und Relativierung vernichtet.
Und wieder Stefan Zweig 1925: „[…] und da alles auf das Kurzfristige eingestellt ist, steigert sich der Verbrauch…“. Und Werner Kindsmüller: „Wenn nur zählt, was kurzfristig Nutzen bringt, dann ist es irrational, Ziele und Handlungsorientierungen zu verfolgen, die langfristig ausgerichtet sind.“[21] So kann und wird es weder den Willen noch das Vermögen für Konzepte geben – selbst dann nicht, wenn diese ökonomisch sinnvoller sind.
Was passiert mit ganzen Gesellschaften, wenn die einzelnen Individuen neurotisieren? Welche Diagnose ist einer solchen Gesellschaft zu stellen? Ergibt sich kongruent eine neurotische Kultur- und Politikentwicklung?
Die Reibungshitze der Geschwindigkeit des zum steigenden Profit verdammten Systems heizt sich immer weiter auf, immer hektischer wird nach neuen Wegen, Methoden, Instrumenten, Verfahren gesucht – aber immer nur auf der vorgegebenen Linie. Dann bleibt keine Zeit mehr für Konzepte. Zusammenhänge werden ausgeblendet. Je weniger komplex, desto besser. Alternativlos werden Möglichkeiten weder in Betracht gezogen noch zugelassen. „Im Reich der Zwecke hat alles entweder einen Preis oder eine Würde. Was einen Preis hat, an dessen Stelle kann auch etwas anderes gesetzt werden. Was dagegen über allen Preis erhaben ist, das hat eine Würde.“[22]
Der gegenwärtige Konformismus
Nichts verdeutlicht die ästhetische Instabilität mehr als der deutsche Durchschnitt, für den die pfälzische Gemeinde Haßloch als bundesweiter Testmarkt auserkoren wurde. Und es kommt noch kleiner: Von den dort ansässigen ca. 10 000 Haushalten dienen lediglich ca. 3000 und deren Kaufverhalten als Entscheidungsgrundlage für die Zusammenstellung der Sortimente. „Ohne Haßloch sähe Deutschland anders aus. Was die Haßlocher einkaufen, dies bekommt auch die Republik in die Regale gestellt, was sie verschmähen, bekommen andere gar nicht erst zu sehen.“[23]
Und hinzukommt: Die Marktforschung mit ihren Methoden und Instrumenten sind das eine, die Interpretation der Ergebnisse und die daraus abgeleiteten Entscheidungen durch Verantwortliche in ihren Dynamiken und Zwängen das Andere. Wer einmal mit offenen Augen durch Haßloch gefahren ist, dem treibt es den kalten Schweiß auf die Stirn, dass diese ästhetische Einöde den durchschnittlichen Bodensatz darstellen soll, von dem ausgehend Konzerne ihr Geschäftsmodell kontinuierlich füttern. Kaufverhalten und mangelnde Sensibilität für die Gestaltung des Lebensumfelds gehen hier eine anschaulich maligne Symbiose ein.
An dieser Stelle sei wieder Stefan Zweig zitiert, der einen „fürchterlichen Willen zur Monotonie“, eine „furchtbare Welle der Einförmigkeit“ konstatiert und die „Gleichmacherei“ beklagt: „Unbewusst entsteht eine Gleichartigkeit der Seelen […]“ – und mittlerweile der Seelenlosigkeit – „[…] eine Massenseele durch den gesteigerten Uniformierungstrieb, eine Verkrümmung der Nerven zugunsten der Muskeln, ein Absterben des Individuellen zugunsten des Typus…“[24]
Und auch schon Georg Simmel hatte bereits 1890 im Verhältnis von Ästhetik und Soziologie einen „Geist des Nivellements“ als „einen gleichmachenden Charakter der modernen Zeit“ mit fragmentarischem Weltbezug ausgemacht.
Der Durchschnitt dient als imperativer Maßstab und wird mit dem Etikett der ökonomischen Vernunft ausgestattet als Antrieb für die Zahnräder der Profit- und Gewinnmaximierung – mit Plus zum Vorjahr – und Plus zum Vorjahr – und Plus zum Vorjahr – immer auf Grundlage von Zahlen aus der Vergangenheit, für eine vermeintlich berechenbare, vermeintlich sichere und vermeintlich wirtschaftliche Zukunft – die an allem, nur nicht am Gemeinsinn orientiert ist. „Das [neoliberale] Zombiesystem, in dem wir leben, weigert sich zu sterben, ganz egal wie unterdrückend und dysfunktional es auch sein mag.“[25]
Ständige Optimierung und sich regelmäßig erhöhende ökonomische Zwänge, die nur lineares Wachstum als alternativlose und bisweilen erpresserische Form kennen, haben etliche Maßstäbe über die Jahrzehnte auf Haßloch-Niveau zurückgeworfen. Mithin ist kein Anspruch mehr vorhanden an Qualität, Service und Nachhaltigkeit. Letztere wurden für Rechenwerte ausradiert und der Durchschnitt mit gewinnbringender Konformität als unantastbare individuelle Freiheit verkauft.
Vormals vorhandene Services und Leistungen wurden zur Produktivitätserhöhung externalisiert, als Freiheit für den Homo oeconomicus angepriesen, mit Algorithmen hinterlegt. Auf diese Weise verschwinden Möglichkeiten und Potenziale, Vielfalt und Pluralität zum Zwecke der Sicherstellung des linearen Wachstums. Das Gefühl für den umgebenden Raum, die Verhältnismäßigkeit der Dinge zueinander sowie deren komplexe Zusammenhänge ist damit abhandengekommen und einer totalitären Subjektivität gewichen. Externalisierte Leistungen und ein Do-it-be-yourself-Versprechen mit der unanfechtbaren Anerkennung der Währungen Reichweite, Ranking, Likes und Followern von sozialen Medien und deren Geschäftsmodellen, setzen jedes Subjekt auf einen alles überragenden Thron – jedoch lediglich als Typus, nicht als Individuum. Objektive Maßstäbe werden unscharf oder verschwinden, sind störend und irrelevant und werden gar als persönliche Demütigung aufgefasst.
Diskurse über qualitativ andere Sichtweisen und Verständnisse verebben durch Abgrenzung und Abwehr ehe sie begonnen. Der Wert der eigenen Ignoranz und Arroganz steht unverrückbar über Wissen, Können, Fähigkeiten und Kompetenzen. Die kommerzialisierte Verfügbarkeit von Informationen und Inspirationen machen Piefigkeit, Baumarkt-Chic und Möbelkettenangebote zum Nonplusultra. Nein, Baumärkte setzen keine Trends! Ästhetik und Konzeptionen für Gesamtbilder können auf dieser schiefen Ebene nicht entstehen: Die Gesellschaft fragmentiert, der Gemeinsinn erodiert. Denn unterschiedlichste eigene Identitäten bzw. die vom Konformismus zugewiesenen Identitäten werden überhöht und fordern je eigene gewichtige Repräsentanz gegenüber anderen ein. Es fehlt mithin an aufklärerischen Idealen und vor allem an der Sicherheit universeller, allgemeingültiger Rechten und Werten.
Stefan Zweig: „Wenn die Menschheit sich jetzt zunehmend verlangweilt und monotonisiert, so geschieht ihr eigentlich nichts anderes, als was sie im Innersten will. Selbständigkeit in der Lebensführung und selbst im Genuss des Lebens bedeutet jetzt nur so wenigen mehr ein Ziel, dass die meisten es nicht mehr fühlen, wie sie Partikel werden, mitgespülte Atome einer gigantischen Gewalt.“[26]
Die Entwertung von Kreativität
So ist die Provinz provinzieller als jemals zuvor. Mittelzentren sind gleichgeschaltet, regionale Eigenheiten, Unterschiede und Besonderheiten werden zugunsten des verkäuflichen Durchschnitts ausradiert. Außerhalb der Innenstädte und vormals sozial wichtiger Ortskerne, entstanden die immer gleichen von Inverstoren diktierten versiegelten und ästhetisch völlig anspruchsfreien kommerzialisierten Flächen. Der Verlust an lokalen Unternehmen und die kontinuierliche Marktkonzentrationen mit ihrem Verdrängungswettbewerb, hat für viele Innenstädte in den vergangenen Jahrzehnten und deren vormals bestehende Angebotsvielfalt und -attraktivität verarmen lassen.
So sehen auch Neubauviertel in allen Teilen der Republik unterschiedslos gleich aus. Es entstehen unzusammenhängende, planlos und zersiedelte Gebiete mit den immer gleichen Fertighäuser-Einfamilienhausschachteln, deren Ödnis nur durch Säulen-find-ich-aber-schön und gelbe-oder-lachsfarbene-Hausfassade-find-ich-aber-schön gekrönt werden. Ästhetischen Gesamtkonzepten auf der Grundlage von ambitionierten Planungen, die über den Durchschnitt hinausgehen, wird sich verweigert und zudem der persönliche Geschmack über stimmige Konzepte für die Gemeinschaft gestellt. Vorgefertigte Zielgruppenvorgaben mit lediglich drei Pralinen zur Auswahl, suggerieren Wahl- und Entscheidungsfreiheit oder gar Selbstverwirklichung.
Auch dieserart wird der öffentliche Raum vernachlässigt. Er verwahrlost und ist dem Spiel des freien Marktes schutzlos ausgeliefert. Private Investoren interessiert der öffentliche Raum ohnehin nicht, denn er generiert keinerlei Profite, die sich eins-zu-eins in den Bilanzen niederschlagen. Die Politik fühlt sich nicht mehr zuständig, hat sich von ihrem ureigensten Auftrag verabschiedet und scheut davor zurück, um Maßstäbe für lebenswerte Räume zu streiten. Allzu oft stellt sie sich vor einflussreiche Konzerne und deren Lobby und erkennt nicht, welches fatale Signal sie damit in die Bevölkerung sendet und welches wichtige, wirkmächtige Feld sie dem Markt kampflos überlässt. Dieses verheerende Signal wird begleitet durch die stetig zunehmende Anspruchslosigkeit und Ignoranz gegenüber non-verbalen Kommunikationszeichen in Bezug auf Bekleidung, Arbeitsumfeld und kultureller Identität.
„Die Auflösung, das Verschwimmen sozialer Kategorien und lokaler Strukturen in einen globalen, zentrumslosen Kontext, ist zum Kennzeichen einer Zeit geworden, der die Dynamik der Eskalation entglitten ist.“[27] Es ist ein weit und tief ausgreifender Werteverfall des Konsums für viele Dinge des täglichen Lebens, wie auch für zahlreiche Dinge des Luxus. Viele Verkaufspreise und mit ihnen der Wert, sind am untersten Ende für Massenware angelangt, bei maximalem Ressourcenverbrauch, ja -vernichtung von Mensch, Tier und der Natur insgesamt.
Und: Dort wo Luxus draufsteht ist nicht immer Luxus drin, wenn die Gewinnorientierung eine höhere Marge verlangt und der Endpreis dann den Verbraucher nicht mehr die zu erwartende höhere Qualität oder den höherwertigeren Service widerspiegelt. Auch das Empfinden für diese Verhältnismäßigkeiten ist perdu. So wird auch in den großen Modehäusern und -ketten die Kreativität ausgebeutet, indem sie sich auf einen nicht zu gewinnenden Wettlauf mit dem zerstörerischen Wachstumszwang eingelassen haben und mitunter 12 Kollektionen hervorbringen. Erste Anzeichen zum Umdenken sind vorhanden – allein der ökonomische Knüppel treibt sie weiter an.
Kreativität findet sich in einer Entwertungsspirale nach unten und wird systematisch auf ökonomisierte, durchschnittliche, berechenbare Linie gebracht. Mitarbeitende sollen kreativ sein und müssen das für ihr berufliches Fortkommen unter Beweis stellen. Angekommen im nihilistischen Relativismus sind alle auf der gleichen Stufe kreativ. Zudem wird jede Kritik empfindsam als sozial unerwünscht klassifiziert, als ungeheuerlich entmutigend, als demütigend. ‚Wir sind doch alle und in allem Gewinner‘ und damit verschwimmen Wertkategorien oder verschwinden ganz. Methoden über Methoden werden für den Markt entwickelt, um Kreativität – meist wirtschaftlich – nutzbar zu machen. Damit wird ein Glaube vermittelt, dass es für Kreativität ein Rezept gibt. Doch gäbe es hierfür ein Rezept, dann wäre es keine Kreativität mehr. Denn auch Serendipität, eine Konstante der Kreativität, wäre dann methodisch erfassbar und vermittelbar. Die Komplexität von Kreativität lässt sich nicht strukturiert erfassen.
Hinzu kommen Methoden, die zum Beispiel der Personalauswahl dienen und die Individuen als Typen in bestimmte Schubladen ablegen, die je nach Bedarf aufgezogen oder zugeschoben werden. Menschen als methodenkonforme Typen einsortiert und passend gemacht für KI-Algorithmen, die von Vorständen mit eng gefassten Weltbildern abgesegnet werden – und die sich wiederum den psychotischen Regeln des sog. Marktes unterwerfen: ‚Ah, die ist kreativ – Ah, der hat ein Gefühl für Zahlen – Ah, die ist ein Alpha – Ah, der ist empathisch, die ist‘ ...usw. usf., immer passend für das jeweilige System, den jeweiligen Nutzen, den jeweiligen Zweck – und immer mit einem Preisschild um den Hals.
Es sind aber lediglich algorithmische Gehäuse ohne Kreativität, die schlussendlich die Dimensionen einer Persönlichkeit mit samt ihrem Habitus nicht erfassen bzw. kleiner einhegen als sie sind, obendrein Zufälle ausschließen und sie lediglich für die Ökonomisierung konformisieren. Sozialkontrolle in Eintracht mit ausuferndem Konformismus, der aktuell in der Cancel Culture gipfelt, vergiftet die Gesellschaft, gefährdet die Demokratie. Konformes Agieren wird monetär belohnt, indem alles mit dem Rechenwert Geld abstrahiert wird. Das schafft emotionale Abschottung mit einem aggressiv verteidigten Rückzug ins Private entsprechend dem für allgemeingültig erklärten Maßstab Ich-Ich-Ich.
So wird die Verortung des Ich in der Gesellschaft mit einem Verlust an Pluralität und Gemeinsinn schier unmöglich. Der Kollektivsingular wird an die Stelle von präziser Beobachtung und Empirie gesetzt und verhindert konzeptionelles Denken und Handeln. Populistische Allgemeinplätze mit selbstgestrickten ausgrenzenden Maximen können sich leicht durchsetzen, werden schnell wahrgenommen und ersticken Ambiguität und Fakten. Insofern wird es höchste Zeit für eine Anknüpfung an die Epoche der im 18. Jahrhundert begonnenen Aufklärung.
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[1] Mallarmé, Stéphane: »La musique et les lettres«. 1895, Libraire Académique Didier.
[2] Shaviro, Steven: »Die Pinocchio Theorie«. 2018, Merve Verlag Leipzig.
[3] Ebd.
[4] Bauer, Thomas: »Die Vereindeutigung der Welt – Über den Verlust an Mehrdeutigkeit und Vielfalt«. 2018, Reclams Universalbibliothek.
[5] Stephen Metcalf: » Die Idee, die die Welt verschlingt«. 22.12.2017, Der Freitag.
[6] Zweig, Stefan: »Die Monotonisierung der Welt«. 1990, S. Fischer Verlag.
[7] Arendt, Hannah: »The Aftermath of Nazi Rule: Report from Germany«. Oktober 1950, Comentary Magazine.
[8] Hessel, Stéphane: » Empört Euch!«. 2011, Ullstein Verlag.
[9] Wieland, Dieter: »Wir brauchen eine neue Aufklärung«. 03.01.2020, Open Space Zeitz.
[10] Hochmann, Lars: » Wir müssen Wirtschaft grundlegend neu denken«. 27.08.2020, Capital.
[11] Bauer, Thomas: »Die Vereindeutigung der Welt – Über den Verlust an Mehrdeutigkeit und Vielfalt«. 2018, Reclams Universalbibliothek.
[12] Nöfer, Tobias: »In Kopenhagen ist man schon weiter«. 10.01.2020, F.A.Z.
[13] Vahland, Kia: »Erobert die City zurück«. 03.08.2020, Süddeutsche Zeitung.
[14] Blom, Philipp: »Das grosse Welttheater – von der Macht der Vorstellungskraft in Zeiten des Umbruchs«. 2020, Paul Zsolnay Verlag.
[15] Knüll, Marianne: »Im Netz der Zauberer: Eine andere Geschichte der Familie Mann«. 1993. Fischer Taschenbuch Verlag.
[16] Dierksmeier, Claus: »Quantitative Freiheit – Selbstbestimmung in weltbürgerlicher Verantwortung«. 2016, transcript Verlag.
[17] Siehe 14.
[18] Byung-Chul Han: »Vom Verschwinden der Rituale - Eine Topologie der Gegenwart«. 2019, Ullstein.
[19] Vgl. 2
[20] Assheuer, Thomas: »Der Geist des Kapitalismus«, ZEIT Online, 10.11.2020
[21] Vgl. 6
[22] Kant, Immanuel: »Grundlegung zur Metaphysik der Sitten«. 1785, Verlag J. F. Hartknoch.
[23] Szymanski, Mike: »Der deutsche Testmarkt – Das Haßloch-Experiment«. 19.05.2010, Süddeutsche Zeitung.
[24] Vgl. 6
[25] Vgl. 2
[26] Vgl. 6
[27] Vgl. 14