Die ästhetische Instabilität – eine essayistische Montage in 4 Teilen (Teil 3)
TEIL III
Die digitalen Räume der menschlichen Existenz
Der Raum menschlicher Existenz, von der individuellen bis hin zur globalen Ebene, wird durch die unaufhaltsame Digitalisierung mehr und mehr verändert und ausgedehnt. Zudem kommen immer mehr Räume in den unterschiedlichsten Bereichen des Lebens hinzu und werden miteinander verwoben. Die Ausstattung und Ausgestaltung dieser Räume befinden sich in einem ständig fortschreitenden Prozess.
Begleitet wird diese Entwicklung von Gefühlen des Unbehagens, konkreten und diffusen Ängsten, von psychologischer Verdrängung und Abwehr – nicht zuletzt ein Signal für ästhetische Instabilität.
Denn wir können uns noch kein Bild vom Ganzen machen. Erkenntnisse bleiben nur Aggregate und sind noch weit entfernt von der Erkenntnis des Systems als Ganzem, das letztendlich mehr als die Summe aller Teile sein wird.
Dieser Prozess ist Teil der Globalisierung, die bislang von wirtschaftlichen Interessen vorangetrieben wurde. Doch sie ist weit mehr als ein wirtschaftlicher Vorgang. Die Verflechtungen vollziehen sich ebenso auf wissenschaftlicher, politischer und kultureller Ebene.
Immer deutlicher wird die immer größer werdende Komplexität. Gleichzeitig hat die Covid-19-Pandemie erheblich zu der Erkenntnis beigetragen, dass die lebenswerte Zukunft in einer globalisierten Gesellschaft nicht allein vom Leistungsgedanken und von Gewinnmaximierung getrieben werden darf – zumal die Beweise offen auf dem Tisch liegen, dass ungeregelte Wirtschaftsfokussierung Gesellschaften zerstört und rechtsnationale, faschistische Tendenzen begünstigt.
„Es braucht auch Gemeinsamkeiten, die mit der Sprache oder einer wohldefinierten Mehrsprachigkeit der Rechtstexte und öffentlichen Debatten beginnen. Mit der Wirtschaft verdient eine Gesellschaft ihren Lebensunterhalt, mit Recht, Menschenrechten und Demokratie genügt sie dem Leitwert der Gerechtigkeit. Ihren Zusammenhalt findet sie aber über die Sprache, ferner über Wissen und Philosophie, nicht zuletzt über Literatur, Musik, Kunst und Architektur.“[1]
Die Entgrenzung von Lebensräumen
Ästhetisch beschwert werden die digitalen Entwicklungen durch die Entgrenzung der Räume: Es verschwimmen Realität und Fiktion, Fakten und Emotion, Objektivität und Subjektivität. Und diese Grenzen sind fließend und lösen sich auf, Übergänge lassen sich nur schwer oder überhaupt nicht definieren.
Diese Entgrenzung zieht psychologische Komponenten mit kognitiven und emotionalen Strukturen im Schlepptau mit. Menschliche Fähigkeiten und Kompetenzen zur Gewinnung von Erfahrungen und Erkenntnissen werden externalisiert, unkritisch, ja hilflos und in Teilen fatalistisch an Maschinen abgetreten. Eigenes, selbständiges Denken und Fühlen wird an eine vermeintlich höhere, nahezu allmächtige Instanz übertragen. Wie alt schon ist der Satz: „Es tut mir sehr leid, aber der Computer sagt ‚Nein‘.“
Der gesellschaftliche und internationale Diskurs rund um die Themen Digitalisierung und KI müssen auf dem Radar einer breiten Öffentlichkeit stattfinden – und nicht wie noch derzeit noch darunter, damit verbindliche Normen entstehen können.
Immerhin hat die Politik auf europäischer Ebene Handlungs- und Regelungsbedarf erkannt. Von der Europäischen Kommission wurde ein Weißbuch erarbeitet: „Zur Künstlichen Intelligenz – Ein europäisches Konzept für Exzellenz und Vertrauen“.[2] Dieses Whitepaper ist auch unter dem Gesichtspunkt der darin gewählten Sprache interessant, die sich am Verständnis von KI als zusammenhängendes Ökosystem orientiert.
Die in Deutschland für einen Teil der Bevölkerung eingeführte Corona-Warn-App ist ein beredtes Beispiel für einen Raum, den viele aus den unterschiedlichsten Gründen nicht betreten haben. Abgesehen von den im Vorhinein bekannten Hürden (z.B. der Besitz eines Mobilfunkgerätes an sich und nur als neueres Modell mit entsprechenden Funktionen), wurde die emotionale Ebene technokratisch vollkommen außer Acht gelassen. Im Fokus waren allein die technische Realisierung und Funktionsweise. Zudem hatten die enormen Kosten einen Beigeschmack, waren doch leistungsfähigere und erprobte Apps verfügbar – auch mit der Möglichkeit von europäischer Vernetzung.
Mit dem Verweis auf datenschutzrechtliche Grenzen wurden sinnliche Wahrnehmung, emotionales Lernen, Sammeln von Erfahrung, Herstellen von Zusammenhängen und Gewinnen von Erkenntnissen nur sehr begrenzt ermöglicht – mit dem bekannten Ergebnis.
Die Kernfragen der Digitalisierung
Dieses Beispiel macht Kernfragen und -probleme greifbar, die die Digitalisierung determinieren, werden immer greifbarer:
Wer in welchen Abhängigkeiten, mit welchem Psychogramm, mit welchem Weltbild und welchem Weltverständnis, mit welcher Motivation und welchen Motiven entwickelt und implementiert – und: wie gestaltet sich die Einführung, die Anwendung, wie entwickelt sich die Akzeptanz.
„Im Wortspiel der „Künstlichen Intelligenz“ verwechseln wir zwei fundamental verschiedene Kategorien: das Lösen strategischer Probleme, das sich als Intelligenz interpretieren lässt. Und das Bewusstsein, das in der Fähigkeit besteht, auf die Komplexität der Welt durch Kreativität und Gefühl zu antworten. Gefühle, Instinkte, Stimmungen, Wahrnehmungen, Berührungen sind Teil des Bewusstseins. Sie setzen uns in Beziehung zur Welt und zu uns selbst.“[3]
BCI
Ein Zukunftsraum der Digitalisierung, der immer größer und wichtiger wird, der immer konkretere Formen annimmt und immer mehr in den Alltag eintritt, sind „Brain Computer Interfaces, kurz: BCI (Synonym: Brain-Machine-Interfaces – BMI).
Diese „ermöglichen eine direkte Informationsübertragung zwischen einem organischen Gehirn und einem technischen Schaltkreis. Durch das Auslesen von Gedanken bzw. mentalen Befehlen können sie als neurotechnologische Eingabesysteme eine sprach- und bewegungsunabhängige Maschinensteuerung vermitteln.“[4]
Und:
„Noch ist die Vision einer schnellen, intuitiven und präzisen Gedankenkontrolle von Computern und Maschinen Zukunftsmusik, der beutende technologische Herausforderungen entgegenstehen…Ein besseres Verständnis darüber, wie neuronale Signale erfasst, interpretiert und sogar beeinflusst werden können, könnte langfristig den Weg für disruptive Entwicklungen ebnen. Bidirektionale BCI-Systeme, die sowohl Informationen auslesen als auch Signale ins Gehirn einspeisen können, könnten in ferner Zukunft eine maschinenvermittelte Hirn-zu-Hirn-Kommunikation ermöglichen und einen Grad organisch-technischer Interaktion erschließen, der die Grenzen zwischen Menschen und Maschine verschwimmen lässt.“ Diese signifikanten Fortschritte sind jedoch abhängig „davon, wie weit BCI gesellschaftliche Akzeptanz gewinnen können.“[5]
Für diese Akzeptanz ist es unerlässlich, dass den Fortschritt nicht allein die Gewinnmaximierung von Unternehmen determinieren.
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[1] Höffe, Ottfried: »Globalisierung? Ja bitte! – Warum universale Werte nicht nur westliche Werte sind«. 21.07.2007, WELT.
[2] EU-Kommission: »WHITE PAPER on Artificial Intelligence – A European approach to excellence and trust«. 19.02.2020. Eur-lex.europa.eu: Dokument 52020DC0065, (COM/2020/65 final).
[3] www.zukunftsinstitut.de/artikel/digitalisierung/6-thesen-zur-kuenstlichen-intelligenz/
[4] Dr. Heuer, Carsten M.: »Brain-Computer-Interfaces« in: Europäische Sicherheit & Technik. Dezember 2015. Das Fraunhofer-Institut für Naturwissenschaftlich-Technische Trendanalysen berichtet über neue Technoligien.
[5] Ebd.