Die ästhetische Instabilität – eine essayistische Montage in 4 Teilen (Teil 2)

TEIL II

Die Orientierungslosigkeit der Mode?

In memoriam Prof. Dr. Dr. Harald Brost

Den Zeitgeist herauszufinden heißt, „nach der Schwangerschaft der Zeit zu fragen“, denn „Mode ist die in Farbe getauchte und in Falten gelegte Geschichte und Ausdruck einer Zeit.“[1]

Die ästhetische Instabilität kommt nicht zuletzt auch in der gegenwärtigen Mode zum Ausdruck: Überfeinerungen, Übersteigerungen und Wiederholungen modischer Elemente, Farben und Formen – insbesondere aus vergangenen Jahrzehnten – multiple, sich überlappende Richtungen mit einem Mischmasch aus Vintage und Neu – wobei im Neuen zwischen niedrig- und hochpreisig qualitativ kaum mehr zu unterscheiden ist – bieten keine Orientierung mehr und stecken gefühlt in einer Sackgasse. Doch mag es keine Orientierungslosigkeit sein, sondern kann vielmehr als ein Ausdruck verstanden werden für die Suche nach einem Weg in eine neue Zeit. Die Wellenbewegungen unterschiedlicher Richtungen schlagen hoch aus und glitzern oberflächlich als fortschreitende Individualisierung: Eine schmerzhafte Suche im iterativen Ausprobieren, dem Aufheben von Weiblichkeit und Männlichkeit und der Gleichzeitigkeit stereotyper Frauen- und Männerbilder – wie sie in multipler Ausprägung auf Instagram repetitiv gefüttert wird. „Eine Generation junger Männer zeigt gerade, dass ihr gendertypische Kleidung am Allerwertesten vorbeigeht.“[2]

In einer anderen gesellschaftlichen Schicht findet sich ein fast bis hin zur Tracht geronnener von britischen Vorbildern geprägter Stil einer Mittelschicht-Hegemonie, die diesen seit den Achtzigern adaptiert hat und bis hin zum social suicide – dem sozialen Selbstmord – nicht mehr von ihm lassen will. Einen Stil, der die britische Aristokratie kopieren will, den es in dieser Pastiche als Imitierung allerdings nie gegeben hat.

„Die Mode bietet einen […] Reichtum an soziologischen und kulturwissenschaftlichen Erkenntnissen darüber, wie sehr unsere zweite Haut Denk- und Glaubensmuster prägt und seither geprägt hat.“[3]

Sie wird insbesondere im deutschen Kulturkreis als trivial, nichtssagend und vernachlässigbar abgetan. Doch ist sie vielmehr eine wissenschaftliche, theoretische und philosophische Erfassung von wesentlichen Dingen, die sowohl induktiv als auch deduktiv Rückschlüsse und Erkenntnisse ermöglicht.

Im Pendelschlag und im Fortschreiten der Menschheitsgeschichte ist die Mode innerliche und äußerliche Selbstbehauptung – bis hin zur Neurotisierung. Sie gibt sich nicht zufrieden mit den aktuell gültigen Bekleidungsformen und ist – im Besonderen in diesen Zeiten – geradezu hospitalistisch im Abgleich vom Jetzt und Dann und Seismograph für sich verändernde Wertevorstellungen und soziologische Entwicklungen.

Befinden wir uns vor einem gesellschaftlich-politisch-ideologischen Bruch, weil das geistige Spiegelbild nicht mehr mit der Realität übereinstimmt, der Raum ästhetisch nicht mehr als stimmig empfunden wird? Und: ist darin ein Ausdruck der Zerstörung eines ganzheitlichen Lebensgefühls zu erkennen, das durch immer mehr Konsum, immer mehr Angst aus der vermeintlich sicheren Konformität auszubrechen gekennzeichnet ist? Denn auch andere Modeströmungen sind mittlerweile in Konformität auf Grund gelaufen.

Seit Jahren ist eine Verfestigung und Abgrenzung von Milieuzuordnung, -zugehörigkeit und Habitus beobachtbar: immer stereotyper, immer rigider, immer militanter und vorhersehbarer, mit „signature-pieces“ und „must-haves“ inklusive PKW-Vorlieben, Urlauben und Wohnungseinrichtungen sowie Restaurants und Freizeitaktivitäten – in immer größerer Emotionalisierung und Infantilisierung, mit aggressiv nach außen getragenem Maßstab in den Grenzen des eigenen Horizonts.

Wie besessen wird an ikonisierten Bildern festgehalten, die „la dolce vita“ der High Society mit Gunilla Gräfin von Bismarck tanzend auf dem Tischen in Marbella identifiziert und vom längst versunkenen Flair von Saint Tropez nicht loslassen will und den mörderischen Spaß des wilden Treibens im Studio 54 in New York der späten Siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts, in der Hasenheide in Berlin des 21. Jahrhunderts trotzig verzweifelt weiterfeiert.

Auch in der Mode fehlt es an Orientierung und einem entwickelbaren Zukunftsbild bzw. findet in der aktuellen Mode die Abstiegsphase einer Zivilisation ihren Ausdruck – einer Zivilisation, der es mehr und mehr an zivilisierten Umgangs-Formen so sehr mangelt. Ein prägnantes Beispiel für zivilisatorische Rokoko-Dekadenz sind Messen für Millionäre und Milliardäre, auf deren Marktplatz einem gesellschaftsmüden Publikum selbstbespiegelnde, ästhetisch fragwürdige Produkte präsentiert werden.

Ist hier ein Unterschied z.B. zu Luxusgegenständen Friedrichs II. von Preussen? Diese wurden anlässlich seines 300. Geburtstags in einer aufwändig kuratierten Ausstellung im Neuen Palais 2012 in Potsdam präsentiert und zusammen mit „Schatullenrechnungen“ ins Verhältnis zu durchschnittlichen und konkreten Lebenshaltungskosten seiner Untertanen gestellt – die Welten in diesen Unterschieden sprechen für sich. Es geht „um die Überwindung der hierarchisierten Subjekt/Objekt-Dichotomie, die die Moderne bestimmt. Subjekt unterwirft Objekt, Mensch unterwirft Welt und Andere.“[4]

Der jüngste modische Fauxpas einer Luxusmarke sei hier als augenfälliges und aktuelles Beispiel erwähnt: ein Corona-Acrylschild für ca. 1000 EUR, das nutzlos lediglich dazu dient, undefinierbare Emotionen zu befriedigen, sich gesellschaftlich zu erhöhen und dabei die Kassen zu füllen, den Aktienkurs auf Linie zu halten. Der hegemoniale Anspruch einer Elite wird immer luzider und verbirgt sich immer mehr.

Läden für dieses Klientel haben keine Schaufenster mehr, sondern nur noch Adressen in den teuersten Bezirken begehrter Metropolen mit diskreten Messingschildern, die weder erahnen lassen noch verraten, was in den Räumen drinnen an Waren oder Dienstleistungen feilgeboten wird.

Zu alledem kommt hinzu, dass überkommene Codes nicht mehr gelesen werden können und sich auflösen bzw. sich dermaßen überfeinern und damit für alle Welt sichtbar und unübersehbar werden: Vormals angesehene, hofierte und seriöse Manager mit überdurchschnittlichen Bezügen sind in ihrer Kluft durch ihr beseibelndes Agieren mittlerweile eher der Halbwelt zuzuordnen, mit dem sie eine ganze Zunft in Verruf bringen und damit Maßstäbe verschieben und entwerten – Banker sitzen in ihrer Uniform 40 Stunden in der Woche allein in einem Büro vor dem Rechner, doch es fehlt der Kontakt, für den das Tragen dieses Aufzugs einen Sinn ergibt und lediglich der eigenen Aufwertung gegenüber Mitarbeitenden dient – schwule Männer sind nicht mehr zu erkennen und werden in ihren Codes von Männern aus dem islamischen Kulturkreis abgelöst, die sich übergepflegt präsentieren und keine schwulen Affinitäten auslassen, während ihre Frauen sich in der Öffentlichkeit verhüllen müssen (ein umso bemerkenswerterer Umstand, ist dieser Habitus mit einer bisweilen hochaggressiven und mit Gewalt ausgetragener Homophobie eng verbunden).

In einem anderen beobachtbaren Trend verweigern sich heterosexuelle Frauen und Männer selbstgefällig strikt äußerer Pflege und Schmuck, um unter keinen Umständen einem Stereotyp zu entsprechen, werden auf diese Weise selbst zu einem Stereotyp und tragen ihr Leiden an sich und der Gesellschaft als ästhetisches Malheur für alle sichtbar nach außen.

Mode ist nicht mehr und nicht weniger Zeitgeist mit allen vorhandenen gestalterischen Möglichkeiten im subjektiven Wechselspiel zwischen innen und außen. Sie ist Differenzierung, Distinktion und Nachahmung, Identifizierung und Ausdruck einer Persönlichkeit. Sie war und ist in allen Zeiten ein ästhetischer Ausdruck ihrer Zeit, eine unmittelbar auf die Person bezogene Gestaltungsfrage, selbst wenn sich diese in einer Art Verweigerungshaltung äußert. Sie ist eine kommunikative Mittlerin zwischen Individuum und Gesellschaft vollzogen in Hegelscher Dialektik.

 

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[1] Prof. Dr. Dr. Harald Brost – FH Trier 18.10.85 und 24.04.1987.

[2] Schmüser, Caroline; Bäuerlein, Theresa: »Geschlechterklischees«. Krautreporter.de, 14.01.2021

[3] br.de: »Mode: Spiegel der Gesellschaft«, 23.07.2019

[4] Vinken, Barbara: »Mode in der Pandemie – Willkommen in der Hypermoderne!«. FAZ, Debatte, 23.03.2021