Die Covid-19-Krise – Eine ästhetische Herausforderung

Krisenzeiten und Wahrnehmung

In ganz unterschiedlichen Bereichen kommt die Welt erschüttert auf unbestimmte Zeit zum Stillstand. Die Sicht darauf hängt entscheidend von der individuellen Lebens- und Arbeitssituation ab und von der unmittelbaren gesundheitlichen oder ökonomischen Bedrohung. Es ist damit nicht zuletzt ein ästhetisches Phänomen, das auf reflektierender Urteilskraft gründet.

In Krisenzeiten werden ästhetisches Empfinden und Wahrnehmen permanent gefordert: Informationen, Lebenseinschränkungen, Vorsichtsmaßnahmen, beruflicher Stillstand sind kritisch zu hinterfragen. Sie müssen subjektiv und kreativ bewertet und damit in ein stimmiges Beziehungsgefüge gebracht werden, um sie dann als Erfahrung und Erkenntnis verarbeiten zu können.

Auf fast täglicher Basis sind wir gezwungen, Wahrnehmungen, Verhalten und Meinungen zu prüfen und zu hinterfragen, um uns die Wirklichkeit aneignen zu können.

„Krisenzeiten schärfen die Wahrnehmung“ (Stefan Willer), benötigen aber auch Leitplanken zur Orientierung.

 

Alltag und Ordnung

Die Zukunft erscheint ungewisser denn je, die Komplexität hat sich durch die Krise noch potenziert. Vieles erscheint ganz besonders mit Blick auf die Folgen aus den Angeln gehoben.

Raum und Zeit werden geschärft und anders wahrgenommen. Eine neue Ordnung unserer alltäglichen Abläufe muss er-funden werden – wiederum ein zutiefst ästhetisches Unterfangen.

Erinnernd erscheinen die Momente im Café, wie Klammern um eine vergangene Alltagsordnung. Diese kurzen Auszeiten bescherten in ihrer Regelmäßigkeit das Gefühl, souverän über Zeit und Tag zu sein.

Die von Vielen als positiver Nebeneffekt empfundene Langsamkeit und Zeit-zu-Hause ist eine durch

und durch privilegierte, bourgeoise Interpretation der Realität. Sie kollidiert mit vielen heterogenen Realitäten, die sich in grundsätzlich anderen Voraussetzungen und Bedingungen begreifen.

Es braucht augenblicklich neue Klammern, die positive Momente gestalten und fassen. Bis wann sich wieder neue Gewohnheiten einstellen können, ist kaum absehbar, bringt doch erst eine wirksame Medikation ein definitives Ende der Krise und ihrer Zumutungen in Sicht.

Die lokale, nationale und globale Wirtschaft ist vor ungeahnte Herausforderungen gestellt. Kein Unternehmen war auf diese Ereignisse vorbereitet. Keine Strategie hat die unvorhersehbaren Auswirkungen abgebildet. Dem Austausch von Expertisen und dem Wissenstransfer kommt mehr und mehr Bedeutung zu, um sich durch das Unbestimmte zu navigieren.

Und es stellt sich die grundsätzliche Frage:

An welchen Kriterien richte ich für die Zukunft meines Unternehmens steuernde Maßnahmen aus? Ziehe ich den größeren, gesellschaftlichen Rahmen verantwortlich mit ein oder agiere ich davon völlig unabhängig und lediglich mit subjektiver Gewichtung?

 

Zukunft und Solidarität

Ein Grundprinzip des Zusammenlebens zeichnet sich immer deutlicher vor dem Krisenhintergrund ab: Solidarität – in kleinstem, privatem Umfeld, bis hin zu global agierenden Unternehmen. Denn die globalisierte Wirtschafts-Welt ist unumkehrbar vernetzt, die wirtschaftlichen Verflechtungen groß, die gegenseitigen Abhängigkeiten – bedingt durch die Internationalität in Arbeitsteilung, Verkehr und Kommunikation – differenziert und feingliedrig. Gleichwohl gibt es schon erste Ansätze zum umsteuern.

Mithin tritt immer mehr zutage, dass es „die Wirtschaft“ nicht gibt, denn sie wird zu 100 % von Menschen gemacht.

Margret Thatchers Leitspruch “there’s no such thing as society, only individuals” war noch nie so radikal von der Wirklichkeit überholt, wie in diesen Zeiten.

Solidarität ist mehr und mehr gefragt und weist dabei mehr und mehr auf eine Lösung im Umgang mit der Klimakrise hin. Systemische und mehrdimensionale Konzepte über alle Grenzen hinweg sind gefordert, um überhaupt noch eine Zukunft gestalten zu können.

Noch ist nicht absehbar, inwieweit die Gesellschaft, die Politik und die Wirtschaft sich durch diese Krise verändern werden. Täglich werden neue Szenarien entworfen, die aus dem Verständnis von heute oder mittels Regnose die Welt von morgen prognostizieren und einordnen. Das ist – selbst im Falle einer validen Datenbasis – mehr oder weniger Lesen in der Glaskugel. Aber dennoch ist es eher mehr als weniger, der Versuch, eine Orientierung in der Un-Ordnung zu schaffen. Neue Wege im Zusammenleben und -arbeiten werden aus der Not heraus ausprobiert. Was wird davon bestehen bleiben?

 

Selbst- und Weltverständnis

Ist das oberflächliche Revival der 80er Jahre in Mode und Mobiliar eine Vorwegnahme dieser Krise? Die Rückbesinnung auf eine vermeintlich sicherere, stabilere Zeit, mit vermeintlich einfachen Lösungen? Eine Zeit, mit einer positiven Zukunftsgewissheit? Sie ist sicherlich eine Zeit, in der die ästhetischen Nenner noch relativ einheitlich funktionierten.

Im Kontext der Krise als chaotische Situation, liegt es beim Einzelnen, für sich selbst eine eigene Ordnung zu schaffen. Dieser Abwehrmechanismus und Kompensation ist Überlebensstrategie und kann zu einem Auseinanderfallen der Gesellschaft führen. Daher hängt unsere Zukunft auch um so mehr von Einzelnen ab und wie sie sich in ihrem Weltbezug verorten.

Was in Krisenzeiten wie diesen mit den weitreichenden Einschränkungen deutlich zur jeweiligen Verortung erkennbar wird: Im Guten, Schönen und in der Kultur erschafft sich der Mensch seine Wirklichkeit und gibt sich in dieser Freiheit zu erkennen. Hierfür braucht es Mut und Kreativität.

In seinem Selbst- und Weltverhältnis bedarf der Mensch Orientierung und Normen. Beides definiert ihn als gesellschaftliches Individuum.

„Mit dem Guten und Schönen sind zwei markante Bereiche menschlicher Normativität bezeichnet, die eine bedeutende Rolle für das humane Selbst- und Weltverständnis spielen.“ (Birgit Recki)

Denn Kultur erfüllt in jeder Zeit ihre je eigene Funktion und ist nicht nur in reichen Zeiten ein unabdingbarer Teil menschlichen Lebens. Der Wert von Kultur unterwirft sich nicht marktradikalen Bemessungen, politischen Weltvorstellungen oder selbstzentrierten Geschmacksurteilen.

Letztere erheben den Anspruch auf Anerkennung und Allgemeingültigkeit. Damit negieren sie die Diversität in der Gesellschaft, indem sie sie trivialisieren und verschieben vorhandene Hierarchien. Dabei verdrängen sie deren Existenz, wiewohl sie immer da sind und immer da sein werden, in welcher Ausprägung auch immer.

 

Wissen und Ignoranz

Eine Erscheinung, die diese Krise in ihren Zumutungen noch steigert, ist die schon seit Jahren sich verstärkende gesellschaftliche wie politische Tendenz zur Arroganz: Meine Ignoranz ist genauso gut und soviel wert, wie dein Wissen oder dein Können. (Isaac Asimov)

Wenn es keine eindeutigen Qualitätsunterschiede gibt, dann gilt Ahnungslosigkeit und Verblendung so viel wie Fähigkeiten und Kompetenzen.

Hinzu kommt, dass dieser gefährliche Kult insbesondere in der Politik seine unsäglichen Blüten treibt und ihn bislang keine negativen Sanktionen aufhalten.

Ambiguitäts- und Frustrationstoleranz sind fast an ihrem Nullpunkt angelangt – wiederum durch die Globalisierung befördert, mit unmittelbarem Erreichbarkeits-, Verfügbarkeits- und Machbarkeitsversprechen.

Diese Entwicklung hat zu immer weiter sinkenden Ansprüchen an ästhetische Konzepte befördert, Sinnlichkeit, die Mehrdeutigkeit und Möglichkeiten impliziert, immer weiter verdrängt und auch in Bezug auf Schönheit ihre Spuren hinterlassen: Schönheit hat „als Kriterium ausgedient. Dies wird hingenommen, weil Schönheit etwas Ambiges ist, weil sie zwar von vielen, aber eben nicht von allen Menschen erfühlt wird. Objektive Kriterien für Schönheit sind schwer anzugeben. Also wird Schönheit und damit auch ihr utopisches Potential abgetan. Eine Sehnsucht nach einer schöneren Welt ist aber auch eine Sehnsucht nach einer menschlicheren, sozialeren, vielfältigeren, beschaulicheren Welt. Diese Utopie der Schönheit ist jedoch anscheinend tot.“ (Thomas Bauer)

 

Orientierung und Sublimation

Feststeht: Die Covid-19-Krise bringt alle an ihre Grenzen, ohne Ansehen des Geschlechts, des Status, der Position oder Funktion. Sie stellt die Systemfrage und eröffnet für die Zeit danach die Chance, den Gesellschaftsvertrag neu zu verhandeln – grundsätzlicher, als wir es in der Vergangenheit für möglich und notwendig erachteten – auch im Hinblick auf ästhetische Konzepte.

Was es jetzt für diese ästhetische Herausforderung braucht, ist ein kühler Kopf, Vernunft über Emotion und vor allem viel Empathie – für Andere, aber auch für sich selbst, um mit dem unabsehbaren Ausnahmezustand zurecht zu kommen und nicht von einem Taumel erfasst zu werden und dabei die Orientierung zu verlieren. Die Sublimation durch eine ästhetische Haltung trägt dazu bei, Souveränität zu erhalten oder sie zurück zu gewinnen.

Kein Leitspruch ist passender für eine aus den Angeln gehobene Ordnung und eine ästhetische Orientierung, als der von Immanuel Kant für die Aufklärung in 1784 formulierte:

„Sapere Aude – Habe den Mut, dich deines Verstandes zu bedienen.“