Organisationsästhetik als Konzept und Dimension – Eine Komprimierung

„Nicht die Sinne trügen, sondern der denkende Verstand.“

Eine streitbare und herausfordernde Aussage – besonders in heutigen Zeiten. Sie stammt aus dem Vierten Buch „Von den Sinnen“ in „De rerum natura – Über die Natur der Dinge“ von Lukrez.

 

In sehr komprimierter Art und Weise fasse ich im Folgenden die grundsätzlichen Aspekte meines Verständnisses von „Organisationsästhetik“.

Atmosphären und Vorstellungen

Zum Einstieg und als konkrete Anschauung mag die Vergegenwärtigung von Erinnerungen, Erfahrungen und Erlebnissen dienen, die, trotz unterschiedlichster individueller Hintergründe, Fantasien und Sehnsüchten, kollektiv und synchron Assoziationen hervorrufen, wenn es beispielsweise um bestimmte Orte geht: Rom, Paris, Berlin rufen ihre je ganz eigenen Atmosphären ins Gedächtnis; Südfrankreich, Süditalien, Südspanien sind mit je unterschiedlichen aber ganz spezifischen Emotionen verbunden; Hotels, wie zum Beispiel das „Cipriani“ in Venedig das „Carlton“ in Cannes, das „Mena House“ in Kairo, leben noch heute von einer ganz bestimmten Aura und ziehen das Publikum an, das an dieser teilhaben beziehungsweise ein Teil davon werden möchte. Ganze Hotelketten firmieren in den Namen von Traditionshäusern, um von deren Strahlkraft zu profitieren.

Atmosphären und Vorstellungen entstehen mit und durch Gefühle, die potenziell für andere Menschen spürbar sind.

Ästhetische Systeme

Und wie Städte und Hotels ihre ganz eigene Ästhetik besitzen, so gilt das Gleiche für Organisationen. Die Bekleidung und der Habitus von Mitarbeitenden bei „Peek und Cloppenburg“ und „C&A“ unterscheiden sich seit Jahrzehnten, ohne dass die Erklärung in der Bezahlung liegt.

Eine Rechtsanwaltskanzlei im Zentrum von Frankfurt am Main unterscheidet sich mitunter grundlegend von einer Vergleichbaren im Umland, obwohl beide mit gleichem wirtschaftlichem Erfolg geführt werden. Geprägt wird die je eigene Ästhetik durch die Region, die Lage, die Ausrichtung, die Klientel, die Haltung und den Anspruch der Eigentümer – um nur einige der offenkundigsten ästhetischen Parameter und Qualitäten zu benennen.

Ästhetische Systeme existieren in jedem Umfeld. Sie sind wie Räume, die sich nach und nach in der Begehung zu einer Wohnung, zu einem Haus, zu einem Ort, zu einer Stadt miteinander verknüpfen. Die Räume sind in ihrer je eigenen und unterschiedlichen Zuordnung und Nutzung definiert und gleichermaßen miteinander verbunden. Sie bilden den äußeren Bezugs-Rahmen, der jedoch selbst schon die ästhetische Atmosphäre in ihrer Gesamtheit insgesamt gestaltet und wirksam prägend Einfluss nimmt.

Ästhetische Beschaffenheit und ihr Einfluss

So besitzen auch Organisationen, jeder Organisationsalltag ästhetische Dimensionen, auf der Mikro-, Meso- und Makroebene – einschließlich der darin sich manifestierenden Themen wie zum Beispiel Führung, Struktur, Kommunikation, Kultur.

Die ästhetische Beschaffenheit hat direkten Einfluss auf das Individuum, auf die Gruppe, auf das soziale Gefüge (inkl. interner und externer Kommunikation) und damit nicht zuletzt auf Arbeitsbeziehungen, Leistungen und Außendarstellung – beispielsweise sichtbar und erkennbar im Corporate Design, in der Corporate Identity – erlebbar in der Kultur und im Umgang miteinander – wahrnehmbar durch unterschiedliche die Akteure in den unterschiedlichen Prozessen, in ihren jeweiligen Rollen, auf den verschiedenen Ebenen einer Organisation. Dieses ästhetische System ist immanenter Teil und zugleich organisationale Ressource.

Dies lässt sich je nach dem Grad der Bewusstheit mehr oder weniger konkret benennen und ist abhängig von der Gleichzeitigkeit der Eindrücke und der Komplexität an Wahrnehmungen. Mit der aktiven Auseinandersetzung wird indes auch implizites Wissen lesbar und damit zugänglich, das Wechselspiel zwischen Schärfen und Unschärfen verringert sich und es entsteht mehr Leuchtkraft.

Überdies schaffen Bildsprache und Sprachbilder Identifikation mit Werten und Zielen. Die je eigenen Narrative formen die je eigene, bewusst und unbewusst gestaltete Ästhetik. Denn zwischen Individuum, Organisation, Gemeinschaft und Gesellschaft besteht ein unauflösbarer Zusammenhang.

Ästhetik ist vorhanden, ob gewollt oder nicht, ob gestaltet oder nicht, bewusst oder unbewusst, stimmig oder unstimmig, Ordnung stiftend oder verhindernd, mit ganz spezifischen Assoziationen, Botschaften und Aussagen, mit dahinter liegenden Hierarchien und Machtstrukturen, sowie psychologischen Aspekten.

Definition „Ästhetik“

Ästhetik ist als menschliche Kondition eine komplexe Wahrnehmung, die die Sinne anspricht. Sie macht das Unsichtbare erfassbar. Das Wahrgenommene wird differenziert eingeordnet, beurteilt und bewertet. Zusammenhänge und Wechselwirkungen werden mittels einer mehrdimensionalen Betrachtung und kreativer Leistung zu einem stimmigen Beziehungsgefüge vernetzt. So buchstabiert können die sinnlichen Wahrnehmungen als Erfahrung und Erkenntnis gelesen werden. In diesem expliziten und impliziten Wissenssystem entfalten sich dynamische Möglichkeiten, die zu Wirklichkeit werden können

Definition „Organisationsästhetik“

Organisationsästhetik befasst sich mit der ästhetischen Dimension der Konstitution von Organisationen. Sie gründet auf ästhetischer Philosophie und resultiert aus dem Verständnis, dass Organisationen in ihrer Komplexität über die Kognition hinaus wahrgenommen und erlebt werden. Die durch sinnliche Wahrnehmung generierten Erkenntnisse amplifizieren Wissen in epistemischer und perzeptiver Ausprägung und bilden sowohl die subjektive als auch die kollektive Wirklichkeit ab und nehmen wirksam Einfluss.

Damit gründet Organisationsästhetik auf der Anschauung, dass Ästhetik ein Fundament menschlichen Wissens ist, durch sinnliche Wahrnehmungen entsteht und durch sie erweitert wird. Damit ist sie die konnektive Perspektive in der Organisationstheorie und -praxis.

Hermeneutisches Potenzial und Orientierung

Die Ästhetik umschließt die Vielschichtigkeit von Wirklichkeiten, die nicht rein arithmetisch, mathematisch und wissenschaftlich zu ergründen sind.

Gleichzeitig umfasst sie die Bedingungen für Erkenntnis, Wissen und andere Konditionen von Überzeugungen, Gewissheiten, Erfahrungen, Rechtfertigungen.

Auf diese Weise verknüpft die ästhetische Dimension mit ihrem hermeneutischen Potenzial Geist und Materie, sie reduziert das Fragmentarische, das Unbestimmte. Weit auseinanderliegende Aspekte können miteinander verbunden werden und verknüpft wahrgenommen werden. Der Umgang mit Komplexität wird ermöglicht.

Wie auf einer Landkarte entstehen eine Orientierung und eine klarere Vorstellung vom Ganzen – und insofern eine Erweiterung des Erkenntnisraumes gegenüber dem reinen Intellekt. Dies ermöglicht – als zusätzliche epistemologische Perspektive – sich den Prinzipien des Ganzen zu nähern und diese konkreter formulieren zu können – mit im Ergebnis analytischen und synthetischen Urteilen.

Veränderungen und Transformationen

Grundlegende Transformationen im Wirtschafts- und Gesellschaftssystem sind bereits zu erkennen, ihr Ausmaß bei weitem jedoch nicht auszumachen, geschweige denn zu spüren. Neuverhandlungen über die Verteilungsgrundsätze von Ressourcen haben bereits begonnen. Doch noch ist nicht absehbar, welche Interessen mächtiger sein werden – abgesehen von den klimatischen Veränderungen, die über kurz oder lang notwendige Maßnahmen und Anpassungen erzwingen werden. Nicht zuletzt der vorherrschende Methodenmonismus der vergangenen Jahrzehnte wird infrage gestellt und in seiner jetzigen Ausprägung von geeigneteren Herangehensweisen überholt werden.

Um auf diese unabwendbaren Entwicklungen adäquat reagieren zu können, um ins Agieren zu kommen, braucht es ein neues Verständnis und eine neue Qualität, nicht zuletzt für die Wahrnehmung von Organisationen, das diese als dialektische Systeme begreift – in sich geschlossen, mit eigener Kultur und gleichzeitig offen und fragil, Einflüssen von außen ausgesetzt, Veränderungen unterworfen.

Immer mehr und immer enger werden analoge und digitale Welten miteinander vernetzt, mit immer mehr Überschneidungen und den damit einhergehenden Friktionen.

Hierbei wird ein ästhetischer Wissens- und Wahrnehmungsmodus, der die Reflexion über sich selbst und die eigene Umgebung beinhaltet, immer maßgebender.

Zukunftsperspektive

Die ästhetische Perspektive ermöglicht eine neue, differenzierte Betrachtung von Organisationen. Derzufolge sind diese von Menschen gemachte Erscheinungen; sie verändern sich permanent, sind verhandelbar sind und implizieren eine positive Haltung zur Zukunft.

Denn: Jede menschengemachte Ordnung und Struktur – und Prinzipien, Normen – sind nicht natürlich, ständigen Veränderungen unterworfen und somit flexibel, modifizierbar, gestaltbar, und darüber hinaus anders denkbar.

Damit ist Organisationsästhetik für die Weiterentwicklung von Organisationen ein Mehrwert von zentraler Bedeutung für die Ausbildung von operativer Exzellenz (OPEX). Sie dient der Identifizierung, der Konzeptualisierung und der Analyse von Strukturen und unterschiedlichen Aspekten – besonders im Hinblick auf das Thema „Transformation“ und „Change“.

Als Perspektive und angewandtes Konzept, um Antworten auf zukünftige Herausforderungen geben zu können, stellt sie den Status quo beständig in Frage, hinterfragt Umstände sowie internalisierte Normen (und Werte) und ermöglicht neues Denken.

Vergleichbar ist das mit leeren, weiß gestrichenen Räumen, die gestaltet werden können, damit eine wahrnehmbare Atmosphäre entsteht, eine Dichte, Mehrdimensionalität und ein Zusammenhang.

Auf sinnlicher Wahrnehmung basierendes Wissen

Der ästhetische Ansatz erweitert Wissen und Erkenntnis um die Dimension des Sinnes- und Wahrnehmungsvermögens und ist insofern eine Ausprägung von menschlicher Intelligenz.

Er zeichnet einen Weg aus dem hegemonialen linearen Denksystem heraus, und trägt damit dem Umstand Rechnung, dass sich Organisationen beständig verändern, Unwägbarkeiten ausgesetzt und unterworfen sind – sei es beispielsweise aufgrund von neuen Rechtsnormen, die sich ganz unterschiedlich auf die organisationalen Ebenen und Facetten auswirken.

(An dieser Stelle sei das Thema „Rechtsästhetik“ erwähnt, das einmal mehr auf das weit gefächerte und entwickelte Potenzial der ästhetischen Philosophie hinweist, aus dem auch die Organisationsästhetik schöpft.)

 

Die Vielfalt der physischen, materiellen Dinge der Welt ist endlich, die Möglichkeiten der geistigen Dinge sind unendlich. Das ist grundlegend, um daraus ein im ästhetischen Sinne ein stimmiges, zusammenhängendes Gefüge gestalten zu können. Das gilt ebenso für die gesamte gesellschaftliche Realität.

Dabei geht es nicht darum unterschiedliche ästhetische Wert-Urteile zu verteidigen, gegeneinander abzuwägen und sie in eine Rangfolge zu drücken, sondern vielmehr um eine kritische Betrachtung und Analyse, um einen Prozess, der ein umfassenderes entwickeltes Urteilsvermögen ermöglicht.

Es geht um Wissen, das nicht rein rational, sondern zudem auf sinnlicher Wahrnehmung basiert, das nicht rein logisch herleitbar ist, item die Wirklichkeit abbildet und durch diese Erweiterung ein größeres Bild entstehen lässt, das mehrdimensional betrachtet werden kann.

Indem sinnliches Empfinden in seiner Bandbreite von konkret bis abstrakt reicht, beinhaltet Ästhetik sämtliche vorhandenen Möglichkeiten und ein Versprechen für diese Möglichkeiten, entwickelt werden zu können.

Für Erkenntnis braucht es Wissen und Emotion. Sie ist die Intelligenz der sinnlichen Wahrnehmung und liefert ästhetische Resultate, die mehr als die Summe ihrer Teile sind...für eine #NeueÄsthetischeDimension.