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Über Geschmack lässt sich DOCH streiten!

Eine kritische Provokation in Bezug auf Ästhetik im Interior-Design…und darüber hinaus…

„Über Geschmack lässt sich nicht disputieren“* + „Ach nein! Das ist nichts für mich! + „Das ist nicht mein Geschmack!“

 

 

Deutscher kann eine Kombination von Sätzen nicht sein. Denn diese und ähnliche kategorischen Aussagen, ja Ausrufe sind tagtägliche Begleiter bei unsren Arbeiten im Dienst der Ästhetik. Sie liegen in der Ebene von Erwartungen und Aufforderungen, in der Kunden „abgeholt“ werden sollen resp. wollen.

 

Reflexartig werden die eingangs zitierten Geschmacks-Stopp-Schilder hochgehalten, wenn sie mit Bildern aus verschiedenen Projekten, mit unterschiedlichen Stilen konfrontiert werden – oder gar mit Mobiliar auf der Höhe der Zeit, mit Antiquitäten jenseits der Gründerzeit, mit mehr als einer Wandfarbe.

 

Doch was verraten solche absoluten Wertungen? Sie dienen der Abwehr und bedienen im Besonderen die deutsche Angst vor Veränderungen. Durchdachte Konzepte, die sämtliche Aspekte und mehrere Dimensionen eines Projekts analysieren und erfassen, verursachen Abwehr und Stress. Indes: Stil – wie auch Konzepte insgesamt – fangen erst da an, wo der Geschmack aufhört. Hier beginnt die Arbeit von erfahrenen und für ihre Profession brennende Interior-Designer – mit ihren Antennen, die unbemerkte, unbeachtete und unausgesprochene Gewissheiten erkennend verarbeiten und damit die Selbstwahrnehmung der Kunden positiv verändern. Mit professionellem Blick von außen berücksichtigen sie individuelle Bedürfnisse und Vorlieben, integrieren diese in die Komposition und nähern sich in immer enger werdenden konzentrischen Kreisen dem Resultat einer Gesamtkonzeption.

 

Denn: Geschmack ist nichts anderes als ein subjektives Werturteil – entsprechend einer individuellen Empfindung – das rein durch seine Selbstbezogenheit definiert ist.

 

Tausende Touristen aus allen Ländern besuchen alljährlich die Leuchttürme jeweiliger Kulturen. Hierfür nehmen sie viel Geld in die Hand, investieren viel Zeit, scheuen keine Mühen. Staunend ergriffen bewundern sie die überdauernde handwerkliche Kunstfertigkeit, das Zusammenspiel von Farben, Proportionen und Materialien, den kulturellen Ausdruck und Anspruch, die überwältigende Ästhetik insgesamt.

Und danach? Mit welchem Gepäck an Inspirationen und Erkenntnissen kehren sie nach Hause zurück? Dort hat es den Anschein, sie seien nur zur Exspiration fort gewesen. Die Funken der Begeisterung, der Ideen, der Anreize, der Motivationen verblassen auf dem ratternden Gepäckband im Rückkehr-Terminal. Verleugnet und ignoriert drehen sie dort ihre Runden. In einer alternativlosen Konformität wird ihr leuchtender Schein nicht gebraucht.

 

Seit Jahren hängt die einsam und verlassene, verzweifelt auf Ersatz wartende Glühbirne an der Decke – „Um Himmels Willen, was weiß ich, ob mir diese oder jene Leuchte in 10 Jahren noch gefällt!?“ – und diese Angst besteht unabhängig von den jeweiligen pekuniären Möglichkeiten. Die Wände in Weiß und Weiß, die Decken in Weiß, vergrauend in allen Schattierungen. Nichts wird dem Gegenüber oder gar sich selbst gegenüber preisgegeben. Die Angst eine falsche Entscheidung zu treffen lähmt jedes Voranschreiten, ganz so als handle es sich um Entscheidungen auf Leben und Tod.

 

Das ist in den vielen Zoom-Konferenzen gut zu beobachten, die seit dem Stillstand der Corona-Zeit das Gefühl von proaktiver Bewegung und eigener Bedeutung aufrechterhalten sollen. Vor emotionsbefreitem oder gar vernachlässigtem Hintergrund, der dem ach so geschätzten Publikum dargeboten wird, werden simple Verkäufe und Akquise euphemistisch-epidemisch als „wertvolle“ Kooperationen angepriesen:

„Kooperationen eingehen, Netzwerke aufbauen, zusammen Potenziale erschließen, sich kennenlernen, neu entdecken und für gemeinsame Projekte begeistern“ lautet der Gipfel an sprachlichem Verpackungswahnsinn.

 

Mit Vehemenz und dem Einsatz größter Energie wird sich einer dem menschlichen Leben eigenen fließenden Entwicklung verschlossen. Nach der Opulenz der 70er Jahre hat allenthalben das Narrativ der sog. ökonomischen „Vernunft“, im Schulterschluss mit dem Narrativ einer als zeitgemäß erachteten minimalistischen Versachlichung, sich Bahn und Dämme gebrochen. Mit Zähnen und Klauen wird diese Konformität als bescheiden deklariert und als höchste Form individueller Freiheit verteidigt – mit samt ihrem bröckelnden Fundament auf der wachsenden Kluft zwischen Arm und Reich und dem In-Frage-stellen demokratischer Werte.

 

So wird häufig der Rückzug in die narzisstische Perspektive des privaten Geschmacks zu einer Vermeidung von Konfrontation und zu einer manifestierten Lebenseinstellung.

 

Zwischenruf:

Wohin diese Vermeidungsstrategie auf der politischen Ebene führte, lässt sich 2022 auf dramatische, ja entsetzlichste, grausamste Art und Weise beobachten. Das Ausblenden jeglicher Hinweise auf ästhetische Instabilitäten, die sich seit Jahren und Jahrzehnten vermehrten und verdichteten. Denn auch Politik ist ästhetisch, wenn sie vorausschauend führend ist, sich mit Integrität für das Wohl des Landes einsetzt und ihre globale Verantwortung im Blick hat – und dabei europäische Werte, Normen und Ziele nicht nur als PR-Fahne in eigener Sache hochhält.

Nach den Verheerungen im letzten Jahrhundert wird die Frage ernsthaft diskutiert, ob autokratische Systeme den Anforderungen der Zeit besser gewachsen sind als freie, demokratische Gesellschaften. Die egozentrische Wohlstandsverwahrlosung ist damit auf der Höhe ihrer Zeit.

Diese ästhetische Instabilität zeigt sich nicht zuletzt ebenso in der mit immer größerer Vehemenz anrollenden Klimakatastrophe, die durch den Tanz um das goldene Kalb „Wirtschaft-Wirtschaft-über-alles“ verursacht und immer weiter befeuert wird.

 

Doch zurück zum Geschmack:

Der Geschmack und das dazugehörige Geschmacksurteil sind immer durch die Ich-Bezogenheit, durch die Subjektivität der Urteilenden gekennzeichnet. Und damit offenbart sich auch die Begrenztheit des persönlichen Geschmacks und macht ihn untauglich für eine ästhetische Generalisierung.

 

Ein Konzept lässt sich daher nicht allein entlang des persönlichen Geschmacks gestalten. Denn dieser ist nur einer von vielen komplexen Aspekten, aus denen sich ein Konzept zusammenfügt und aufbaut: Farben, Licht, Umgebung, Region, bauliche Voraussetzungen, finanzielle Möglichkeiten et cetera pp.

 

Nahezu jedes Urteil, jede Bewertung von Geschmack werden als übergriffig definiert und negativ sanktioniert. „Each to their own“ + „It’s none of my business“ lautet die geradezu absolutistische Formel erwarteter sozialer Korrektheit. Diese füttert und fördert die narzisstische Nabelschau und lässt die Grenze zum Nachbarn immer größer und höher werden. Und das Denken in Schubladen wächst exponentiell mit.

 

Selbst die sich immer mehr ausbreitende Un-Kultur kreischender Fassadenfarben, lebloser Steingärten zur „Abschotterung“ jeder ungewollten Form von Natur, überhohe Plastikzäune in beliebig-grau oder mit aufgedrucktem Blattwerk oder sonstigen gemeinen „Tattoos“, Garagen, wie brutale Bunker, für immer mehr und größere Autos, werden klaglos ignorierend hingenommen – als sei dies alles das Normalste auf der Welt, oder gar ein Zeichen von Fortschritt, von Individualität. So findet zur ästhetischen Gestaltung des öffentlichen Raums kaum ein konstruktiver Diskurs statt. Eigene Interessen sind von der Gesellschaft als ultimative Freiheit hinzunehmen.

 

Hinzu kommt ein immer größer werdendes Missverständnis von Luxus und Luxusgütern. Markenansehen, hohe und höchste Preise (die oftmals lediglich der Ausschüttung für den Shareholder-Value dienen) werden als Indikatoren für Luxus verherrlicht. Auf Wertigkeiten wie Qualität, Herstellung und Herkunft wird kaum geachtet – die Wertschöpfungsketten sind bei „Must-haves“ schlichtweg schnurz – von Fast-Fashion ganz zu schweigen.

 

Der globalisierte Geschmack kennt kein Gemeinsinn und keine Tiefe. Dazu müsste er sich von seiner Egozentrik lösen und den Blick über den eigenen Tellerrand riskieren, sich eingehender und umfassender auf ein Thema einlassen. Das wiederum ist in gehetzten Zeiten des schnellen Social-media-weg-und-weiter-wischens nicht vorgesehen. Jede und jeder definiert nach eigenem Gutdünken, was Geltung hat und was nicht – mit dem Anspruch, dass diese Wertung aber bitte unanfechtbar ist.

 

Zwischenruf:

Der Neoliberalismus hat ganze Arbeit geleistet. Sehen wir uns dazu die jeweils besondere regionale Ästhetik an. Sie wurde in kürzester Zeit zugunsten einer globalisierten Billigheimer-Doityourself-Baumarkt-Un-Kultur ausgelöscht. Die Landstriche werden ärmlicher, veröden (auch kulturell) und mithin wuchert defätistisch die Interesselosigkeit an diesem Zustand. Ein sich immer weiter von der Lebensrealität entfernender Diskurs um das Thema „Ästhetik“ – nicht zuletzt auch in der Philosophie – ist ebenso eine Form von Armseligkeit und führt direkt zum Sahnehäubchen oben drauf: „Philosophie? Abstraktes Denken? Den nutzlosen Quatsch braucht die Welt nicht!“

Aber: Kultur setzt sich aus vielen Komponenten zusammen. Nicht nur Kleidung ist ein Zeichen von Kultur, sondern auch Interior-Design, Architektur, wie die Ästhetik insgesamt. Und: Nein: Es ist kein ökonomisches „Only-nice-to-have“, kein irrelevanter „Deko-Kram“ und wider jede „ökonomische Vernunft“. Sie ist vielmehr das Salz des Lebens und macht den Menschen zum Menschen.

Und auch hier wieder die reflexartig, immer mitschwingenden Keulen – zur Ergänzung der Eingangszitate: „Das sehe ich anders!“ – „So kann man das nicht sagen!“ – „Da fühle ich mich gekränkt.“

 

Um diese – zugegebenermaßen – mit einigem Aplomb kurz angerissenen Zustände für eine bessere, ästhetisch-attraktive und lebenswerte Zukunft umzukehren, braucht es den Abstand vom Ich als Zentrum, um die Dinge zu betrachten, wahrzunehmen, zu erkennen. So entsteht neues Wissen: über sich selbst, über Andere, über die Welt – als komplexes, sich gegenseitig bedingendes, unauflösbar verknüpftes Netzwerk.

 

Und: Es ist eine Reise zur „connaissance tacite“ (zum vorhandenen stillen Wissen), um eine neue Sicht einnehmen zu können und anzuerkennen, dass Alles im menschlichen Leben kommuniziert – gewollt und ungewollt – und damit eine beurteilende Bewertung aufgrund sinnlicher Wahrnehmungen ermöglicht, ja erfordert.

 

Moden, Materialien, Techniken, Farben, Geschmäcker verändern sich, aber ein gutes Gesamtkonzept überlebt diese Veränderungen, macht sie flexibel mit und bietet eine genuine Perspektive.

Denn: Es geht nicht nur darum etwas netter und schöner aussehen zu lassen. Es geht vielmehr um ein möglichst umfassendes ästhetisches Verständnis und um Lösungen in ihren unterschiedlichen Dimensionen kreativ zu denken – und um diese höchstmöglich mit Freude an Wissen und Können zu gestalten

…und darum muss über Geschmack gestritten werden.

 

Mit einem Zitat schließe ich diese Ausführungen:

„Es ist einem jeden vergönnt, seinen eigenen Geschmack zu haben, und es ist rühmlich, sich von seinem eigenen Geschmack Rechenschaft zu geben suchen. Aber den Gründen, durch die man ihn rechtfertigen will, eine Allgemeinheit erteilen, die, wenn es seine Richtigkeit damit hätte, ihn zu dem einzig wahren Geschmacke machen müsste, heißt aus den Grenzen des forschenden Liebhabers herausgehen und sich zu einem eigensinnigen Gesetzgeber aufwerfen.“

Dies sagte Gotthold Ephraim Lessing vor ca. 250 Jahren.

 

 

 

Matthias Franck

 

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*Immanuel Kant